Zeugnisangst.
"Mir ist es ein wenig kühl, meine Liebe, ich geh wieder ins Zelt
zurück!" Ich war zu träge, mich zu meinem Mann umzudrehen, deshalb
hob ich nur leicht den Arm. Seine Schritte knirschten noch über die
Steine, dann war Stille. Ich zog das linke Bein etwas näher an mich heran
und lehnte mich mit dem Rücken an die dicke Holzbohle. Hinter den
geschlossenen Lidern tanzten Licht- und Schattenspiele. Welch ein Morgen nach
den vielen Regentagen! Nach Süden zu, weit über das stille Wogen des
Ärmelkanals hinaus, vom blassblauen Horizont, streute das Sonnengefunkel
eine breite, goldene Bahn bis zu mir. Die silbergrauen Wellen schwangen auf dem
flachen Sand rund und leise aus. Sie hatten einen Saum wie weiße Spitze.
Sie spielten um meine Füße, sprühten einen gläsernen Regen
vor und zurück, - ich hätte Stunde um Stunde hier sitzen mögen
und nichts denken, nur schauen, schauen und vergessen, alles vergessen....
vergessen? Irgendetwas störte plötzlich die großen
Gefühle. Ich hatte etwas vergessen! Aber was? Es war wichtig, das
wußte ich. Aber ja, natürlich! Ich durfte auf keinen Fall vergessen,
morgen an unserem letzten Tag auf dem Campingplatz, im Waschraum auf dem
Spiegel meinen Aufkleber anzubringen! Das war immer eine diffizile
Angelegenheit. Zuhause hatte ich eine Reihe Selbstklebe-Etiketten beschriftet
mit dem Satz: "So sieht der Mensch aus, den Gott so liebt, daß Er seinen
eingeborenen Sohn für ihn ans Kreuz schlagen ließ!"
Selbstverständlich in englischer Sprache, wo wir ja in diesem Jahr in
Südengland gelandet waren. Diese Etiketten zieren schon die Spiegel von
vielen Waschräumen inWesteuropa, teils in Englisch, Französisch,
Italienisch und auch Deutsch. Es ist, wie gesagt, gar nicht so einfach, sie
unterzubringen, weil meist jemand neben mir steht, wenn´s ans
Händewaschen geht. Und dann trau ich mich nicht, es aufzukleben. Auch hier
auf dem Campingplatz möchte ich lieber warten bis kurz vor unserer
Abreise, dann brauche ich keine Fragen zu beantworten und keine Schwierigkeiten
zu befürchten. Ich muß nur den geeigneten Moment abpassen, die
Etiketten in der Hand verstecken, ganz harmlos in den Waschraum gehen und ein
bißchen herumtrödeln, sollte zufällig ein zweiter Mensch
anwesend sein. Aber dann nichts wie dran!
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Wie immer werde ich ein kurzes Gebet sprechen, daß diese Botschaft auch
wirklich Menschen anspricht und ihren Zweck erfüllt.
Komischerweise hatte ich diesmal bei dem Gedanken an meine heroische Aktion ein
Zwicken in der Magengegend. Zum längeren Nachdenken kam ich aber nicht
mehr. Vor unserem Zelt saß mein Mann und spielte Gitarre. Neben ihm
stand, schon fertig gestimmt, meine Mandoline. So setzte ich mich dazu. Mein
Mann zwinkerte mir zu:"Woll´n wir?" Über den noch ziemlich leeren
Platz klang der Choral: "Großer Gott, wir loben Dich!" zweistimmig und
dreistrophig. Während der zweiten Strophe hörte ich Schritte hinter
mir und Geschirrklappern. Eine Frau stellte ihre Töpfe ab und sich selbst
neben uns. Aus dem Nachbarzelt kam ein schwarzer Wuschelkopf heraus und
gehörte zu einem jungen Mann, der sich still auf unseren Hocker setzte.
Als die dritte Strophe verklungen war, hatten wir einen Zuhörerkreis von
sechs Personen und zwei Hunden. Es wurde geklatscht und gelobt. "Dieses Lied
singen wir auch oft, im Gottesdienst!" freute sich die Frau mit dem Geschirr.
"Können Sie noch andere Lieder spielen?" Wir gaben noch "Lobe den Herren,
den mächtigen König der Ehren!" zu, und die Zuhörer wurden
richtig gesprächig. "Zu welcher Gemeinde gehören Sie denn?" "Wir
waren auch schon in Deutschland mit einer kirchlichen Jugendgruppe!" "Ich bin
oft in Düsseldorf, zur Modemesse,".. und noch munter so weiter. Eine
Familie hielt sich zur englischen Hochkirche, die andere zu den Methodisten, es
kam allerhand zusammen. An diesem Nachmittag unterhielten wir uns mit einem
Ehepaar noch sehr lange über ernsthaftes Beten, über den lebendigen
Kontakt mit Jesus Christus. Es tat so gut, hier in einem fremden Land Menschen
kennenzulernen, die Gott in der gleichen Weise erlebten wie wir. Nicht eine
Sekunde lang war es mir peinlich, darüber zu sprechen. Es war sogar
richtig schade, daß wir nur zwei Tage dort verbringen konnten.
Unwillkürlich verglich ich hinterher meine Freude an diesen Besuchen mit
meinen Bedenken bei meiner Klebezettel-Aktion. Wieso hatte ich es bisher
für richtig empfunden, mich so zwischen "Nacht und Nebel" zu verstecken
und die Botschaft vom Kreuz weiterzugeben wie die Parolen eines verbotenen
Geheimbundes? Ich verstand mich selbst nicht mehr. Das mußte sich doch
ändern lassen! Mutig holte ich meine Tasche, ging geradeswegs in den
Waschraum und wollte vor möglichst vielen Leuten demonstrativ meinen
Kleber anbringen. Aber, wie es oft geht, es war niemand da.
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So prangte der gelbe Fleck wenigstens schon heute am Spiegel; und jeder, der
ahnte, daß ich das war, sollte mich ruhig darauf ansprechen.
An diesem Abend ging ich noch einmal allein den kurzen Weg zum Strand. Niemand
störte den Gleichklang der atmenden Weite mit meinem Herzschlag. Vom Weste
her flammte eine rote Lohe über den schwarzsilbernen Grund.
Langsam ordneten sich meine Gefühle wieder den klaren Gedanken unter. Im
regungslosen Staunen wurde mir neu bewußt, welchen Herrn, welchen
unendlich herrlichen Schöpfer ich bezeugen darf! Alle unbeschreiblichen
Wunder dieser Elemente, alle Kraft, die die Wasser in ihren Grenzen hält
und aus der die Sonne ihre Energie bezieht, ist Seine Macht, Seine Liebe! Welch
ein Herr! Und noch besser: welch ein Vater über alle, die das noch viel
größere Wunder der Vergebung um Christi willen annehmen! Wir, ich,
hier in der Dämmerung wie ein Staubkorn vor seinen großen Werken
sinnierend,darf ihn Vater nennen! Sollte ich mich deswegen schämen? Welch
eine Dummheit!
Heute ist dieser Urlaub schon eine Weile Vergangenheit. Die großen Worte
und das überschwengliche Empfinden sind im Alltag in kleine Münze
umgewechselt worden. Während der Arbeit bleibt meist keine Zeit, atemlos
staunend vor den Wundern der Schöpfung zu stehen. Aber die handgreiflichen
Erfolge dieses Intensiv-Lehrgangs am Strand sind mir auch viel wichtiger. Als
erstes habe ich erkannt, daß meine so gut gemeinte Zettelgeschichte mir
deswegen Magenschmerzen verursachte, weil sie tatsächlich den Hauch des
Verbotenen hatte. Anderer Leute Spiegel mit einem fast unablösbaren
Papierkleber zu versehen, fremdes Eigentum zu benutzen, um anonyme Botschaften
weiterzugeben, ist wirklich nicht die feine christliche Art. So verlockend die
Spiegelflächen aller Waschräume auch für mich sind, ich werde
wohl nur noch da etwas anbringen, wo es mir ausdrücklich erlaubt wurde.
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