Was ist Zeit?
"Omi, schenkst du mir den Ring? Den brauchst du doch bestimmt nicht mehr, der ist doch schon so alt!"
"Alt? Mäuschen! Der ist noch keine... laß mich überlegen... den hab ich erst achtzehn Jahre.."
"Aber Omi, da war ich noch gar nicht auf der Welt, so alt ist der schon!"
Zeit - gibt es dich? Bist du die Spanne zwischen Anfang und Ende einer Existenz?
Heißen die Tropfen Gegenwart, die uns gerade berühren, Zeit? Sie geben immer den gleichen Laut, wenn sie da sind - aber, was auf uns zufließt, sind neue Töne und wieder fort von uns geht ein anderer Klang. Ist es wie das Signal eines Zuges, der an den Wartenden vorbeifährt? Oder sind wir die Eilenden, die an der ruhenden Zeit vorbeirasen?
Kinder sehen eine endlose, unbewegliche Fläche, jungen Menschen erscheint die Zeit wie ein breiter, träger Strom - mir aber fließt sie durch die Finger - viel zu schnell, nicht zu halten.
Menschen unterteilen die Zeit in genau gleiche Abschnitte und legen die Skala überall dort an, wo Zeit geschieht. Aber nur auf wenigen Strecken stimmen unsere Strichlein mit dem Schritt der Zeit überein. Und wenn die Zeit erst einmal zu Bildern in unseren Erinnerungsspeichern geworden ist, verliert sie völlig ihr Gleichmaß.
"Weißt du noch, als wir in der Schule nachsitzen mußten und sind heimlich aus dem Fenster gesprungen, als alle Lehrer aus dem Haus waren?"
"Ach? So mutig waren wir? Das ist mir total entfallen. Aber an das Gesicht vom Hausmeister, als auf dem Treppengeländer endlich kleine Metallkugeln
angebracht waren, so daß wir nicht mehr mit Schwung herunterrutschen konnten - an das zufriedene Gesicht erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen!"
Tropfen für Tropfen, Bild für Bild, transportiert die Zeit - mit Hilfe allerfeinster Nerven-Elektronik - in den Kopf. Wenn sie dort lagern würden wie unsere Video-Kassetten und nach Wunsch jede Sequenz abgerufen werden könnte in der Originalform und -länge - dann müßten wir Köpfe haben so groß wie Rathäuser, denke ich mir.
Zum Glück sind unsere Speicher besser ausgerüstet als alle Dateien der Welt. Sie sortieren die eingehenden Informationen sofort nach Gefühlsdichte, Wichtigkeit und Wert für spätere Kombinationen. Daß wir die Welt empfinden wie einen Gang durch den Nebel, aus dem die Dinge auftauchen und klar zu erkennen sind, wenn sie uns nahe kommen, und in dem sie wieder entschwinden, wenn sie sich von uns entfernen, das liegt an unserem kleinen Blickfeld. An einem Nebeltag kann ich mich umwenden und den verlorenen Handschuh auf dem Weg wiederfinden, den ich schon einmal ging. In die durchlebte Zeit finde ich nicht zurück, trotz aller technischer Träume und Versuche.
Aber: warum sehe i c h meine Großmutter noch so klar vor mir, wie sie nacheinander ihr Kopftuch, ihren Mantel, ihren Schal, ihre Strickjacke, ihre Weste ablegte, und im warmen Sonnenschein eines Junitages aus den schwarzen Kleidern sich eine winzige Person mit dünnem Haarknoten herausschälte - während meine Schwester Mühe hat, sich die Großmutter überhaupt noch vorzustellen?
Nicht nur die Klarheit der Bilder ist bei uns unterschiedlich. Sie empfindet auch die Zeit zwischen den Ereignissen anders. Neulich kam ich noch einmal an dem Firmengebäude vorbei, wo ich meine kaufmännische
Lehre machte. Ist das tatsächlich schon über vier Jahrzehnte her? Ich mußte es mir fast an den Fingern abzählen, um es zu glauben. Es war doch erst gestern,
daß ich am Pförtner vorbei diese Treppe hochging, oder..?
Was ich erlebte, und die Erinnerung daran - unterliegt verschiedenen Zeitempfindungen.
Vielleicht ist das gut so. Wenn jeder alles behalten würde bis ins kleinste Detail, würde es sich erübrigen, die eigene Wahrnehmung mit den Teilstücken der anderen zu ergänzen. So aber sieht jeder immer nur ein Stück der Wirklichkeit.
Leider entsteht aber selbst aus solch einem Stückwerk selten das komplette, reale Bild einer Sache, denn der Weg von Auge oder Ohr zum Erinnerungsspeicher ist mit Stolperdrähten versehen. Einiges wird nur teilweise gespeichert, manche Bilder gehen ganz verloren. Wer darüber Bescheid weiß, und es akzeptiert, ist schon klug zu nennen. Menschen, die ihr eigenes Gedächtnis für unfehlbar halten, sind sehr schwer zu ertragen.
Die andere Seite der Münze erleben dagegen viele ältere Menschen. Jüngere Zuhörer zweifeln die Realität der Ereignisse an, die ihnen berichtet werden, und sollten sie noch so sehr der Wahrheit entsprechen.
In alten Köpfen spielt die Zeit wirklich ihr eigenes Spiel. An der großen Tafel im Flur des Seniorenheims steht angeschrieben: 18.00 Uhr Singen im Gemeinschaftsraum. Der Abend wurde bereits beim Frühstück angekündigt, beim Mittagessen daran erinnert und um 17.30 Uhr beim Abendessen nochmals darauf hingewiesen. Die meisten der siebzig Bewohner erheben sich von ihren Stühlen, setzen sich in Richtung ihres Zimmers in Bewegung, und - mit jedem Schritt versinkt die Erinnerung an die eigentlich gern
wahrgenommene Singestunde ins Nichts. Wer aber mit diesen Menschen näher ins Gespräch kommt, erfährt eine ganze Menge aus deren Jugendzeit und staunt immer wieder, wie lebendig ihnen die Einzelheiten ihrer Kriegserlebnisse noch vor Augen stehen.
Ich für meinen Teil bin gespannt auf die Zeit, wo Zeit keine Rolle mehr spielen wird. Wo nicht mehr das zählt, was sich in Menschenköpfen an Zeit und Ereignissen gesammelt hat, wo keine Lücke im Gedächtnisspeicher mehr als Entschuldigung für Fehlverhalten oder Unterlassungen deklariert werden kann.
Ich finde keine Menschenworte für die zeitlose Form von Dasein. Eigentlich schade, aber auch logisch. Daß es sie gibt, ist uns versprochen, und daß sich an der Gestaltung der jtzigen Form von Zeit die Qualität der so ganz anderen Existenzform entscheidet, steht ebenfalls fest.
Ach, soviel Zeit verbraucht, um über dich nachzudenken, du fremde Dimension! Jetzt wird es Zeit, daß Omi in ihren zeitlosen Mantel schlüpft und ihre Enkelin nach Hause bringt !