Von nichts kommt nichts.
Frau Hartwig las am Dienstag zufällig den Kulturteil der Lokalzeitung. Es fand eine Autoren-Lesung junger Leute statt, und die interessierte Frau Hartwig sehr. Wie tief ließen doch die ´großen Kinder´ in ihr Innerstes schauen durch die auf Papier gebannten Gefühle!
Sechs junge Literaten wagten sich mit ihren Werken an die Öffentlichkeit. Eine Abiturientin las u.a. langsam die Frage vor: ´´Wenn ich nicht mehr schreie, bin ich dann weise geworden oder tot?´
´Frau Hartwig achtete kaum noch auf die folgenden Gedichte. Die bittere Frage hatte sich in ihr festgehakt. Am Ende der Veranstaltung ging sie auf das Mädchen zu. Über die buntgefärbten Haare sah Frau Hartwig bewußt hinweg. Sie dachte: Und wenn sie meine Tochter wäre? Da sah sie vor sich nur noch ein verschrecktes, sich mit vielen Mitteln wehrendes Kind.
Auf ihre Frage: "Birgit, möchten Sie auf Íhre Überlegung von vorhin wirklich eine Antwort?" reagierte Birgit erstaunt. "Ja, natürlich! Sonst hätte ich das ja nicht vorgelesen!"
"Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen antworten würde: Ob Sie schreien oder nicht - Sie sind immer noch tot!?"
Birgits Augen schlossen sich zu schmalen Schlitzen. Nach zwei Sekunden Funkstille meinte sie: "Interessante Perspektive. Wie kommen Sie darauf?" Frau Hartwig ging aufs Ganze. "Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. So spricht die Bibel über Menschen, die in sich noch kein neues, von Gott geschenktes Leben haben."
Es folgte prompt die kalte Dusche: "Ja, sehen Sie, und gerade solche despotischen Behauptungen will ich erst gar nicht hören!" "Dann werden Sie auf Ihre Frage auch nie eine gültige Antwort finden, Birgit." "Auch gut! Lieber suche ich unendlich weiter, als solchen Zwang zu akzeptieren!" Damit drehte sie sich zu einer Zeitungsreporterin um.
Frau Hartwig seufzte. Wer hatte diesem Mädchen nur ein solch verzerrtes Bild von den guten Ordnungen Gottes vermittelt? Was die jungen Leute aus den Medien erfahren und was an sogenannten Traditionen noch lebt, ergibt ein ziemlich verwaschenes Bild. Und in den Schulen, im Elternhaus? Auch
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dort bekommen die Kinder oft nur wenig klare Informationen.
Wie sollte die so scharfsinnig denkende Birgit also in der Lage sein, sich für oder gegen das Angebot Gottes zu entscheiden? Die Erwachsenen haben angeblich Wichtigeres zu tun, als den Kindern die Ursprünge der europäischen Kultur wahrheitsgemäß zu erklkären. Vielleicht haben die meisten selbst keine Ahnung mehr von geistlichen Dingen.
Frau Hartwig schüttelte den Kopf. "Wir sind wohl beim Anfang wieder angelangt," sagte sie vor sich hin und dachte an die ersten Christengemeinden von vor zweitausend Jahren. Die mußten sich auch in einem völlig andersartigen Umfeld Gehör verschaffen. Sie bekamen in einem Brief ihres Gemeindegründers eine genaue Analyse: Von nichts kommt nichts. Ausführlich: der Glaube kommt aus der Predigt. Wie sollen die Menschen wissen, was sie glauben sollen, wenn keiner sagt wie und an wen? Und dann: wonach greifen die Menschen, wenn sie Hilfe suchen?
Jetzt mußte Frau Hartwig lächeln. Sie stellte sich einen Mann vor, der als Medizin gegen seinen Husten das Abführmittel Rizinus einnimmt. Damit ist der Husten wohl gestoppt - weil der Mann sich einfach nicht mehr traut zu husten! - aber die Krankheit selbst ist dadurch nicht geheilt.
Bei natürlichen Dingen versteht jeder, daß das ein Scherz sein soll. Nur Narren würden sich so unvernünftig verhalten. Aber - um ihre wunde und tausendmal verletzte Seele zu beruhigen, greifen die Menschen zu den ungeeignetesten Mitteln, wenn sie ihnen nur unverschämt genug als Medizin angeboten werden.
Wie sollen sie - vor allem die Kinder- unterscheiden können zwischen Gift, Placebo und Arznei, wenn die Beipackzettel unehrlich sind?
Leute, die aus eigener Erfahrung sprechen können, sind da gefragt. "Das Problem ist nur," dachte Frau Hartwig, "mich fragt so selten einer. Und diese Birgit, mit der ich noch so gerne länger gesprochen hätte, ist jetzt nicht mehr erreichbar."
War es nun Zufall? Gestern nachmittag traf Frau Hartwig das Mädchen in der Badeanstalt des Nachbarortes wieder. Sie bekam auf ihren Gruß eine freundliche Antwort und erfuhr sogar Birgits Adresse. Nun konnte sie den langen Brief, den sie zuhause schon einmal auf Verdacht geschrieben hatte, endlich zur Post bringen.
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