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7.11.98
Matthias an Johann Wolfgang - Novelle -
Manuela lächelt. Die Amsel unter dem Hortensienstrauch vor ihrem Fenster gibt sich redliche Mühe, den Regenwurm aus der Erde zu ziehen. "Ein richtiger kleiner Kampf auf Leben und Tod. Schau es dir an!" Manuela spricht in Richtung Essraum, aber Dirk ist in den Sportteil der Morgenzeitung vertieft. Die Amsel scheint Plan B anwenden zu wollen. Sie läßt den Wurm für eine Sekunde frei. Der gelbe Schnabel hackt blitzschnell wieder zu - aber da ist kein Wurm mehr. Eine Krume vom weichen Boden unter den lilablauen Blüten bewegt sich noch, die hungrige Amsel steht und schaut - drei Sekunden regungslos, dann fliegt sie mit lautem Tschilptscherilp in die Kastanie auf der anderen Straßenseite. - Sieh an! Keine Augen, keine Nase, kein erkennbares Warnsystem - aber noch einmal mit dem Leben davongekommen! Manuela lächelt wieder. 'Die schwarzen Flügelchen rechts und links von einem hungrigen Vogelmagen müssen sich wohl oder übel nochmal aufschwingen und woanders ein Frühstück suchen - und der Regenwurm? Wird er diesen Tag als seinen zweiten Geburtstag im Kalender anstreichen? Bei aller Sympathie für die gebeutelte Kreatur - das würde ihn überfordern.' "Was würdest du fühlen, Dirk, wenn du der Regenwurm wärst und jemand hätte dich im tödlichen Würgegriff, der dir haushoch überlegen ist, weil er mindestens zwei Sinne mehr zur Verfügung hat..?"
Dirk kaut noch am Rest seines Sesambrötchens mit Camembert. "Ich bin froh, daß ich keine Regenwürmer zum Frühstück serviert kriege, aber wenn du früh am Morgen schon so tiefsinnige Fragen stellst..., dem armen Wurm dürfte es nicht besser gehen als manchen Menschen. Wenn das böse Schicksal zuschlägt, dann werden sie weder durch das
Flügelrauschen noch durch den großen schwarzen Schatten gewarnt - ihnen fehlt einfach die Antenne dafür." "Du hast tatsächlich verstanden, was ich meine! Denkst du, dem Regenwurm wäre wohler, wenn er Augen und Ohren hätte?"
"Ob ich den Regenwürmern sowas wünschen soll? Ich glaube nicht. Das brächte eine ganze Menge Knoten in die Nahrungskette. Aber den Menschen würde ich sehr wünschen, daß sie ihre Sinne alle beisammen hätten und daß sie die, die abgeklemmt sind, wieder anschließen lassen würden." "Ja, das wär was...", Manuela holte den Staubsauger aus dem Besenschrank. Der Motor setzte ein. 'Mono-Ton! Wirklich das richtige Wort für dieses Geräusch! Die Straße, das Haus - alles wird abgeschaltet dadurch. Telefon, Hausglocke, Gespräch - alles ist tot -aber nur für mich. Ob wohl auch d a r a n gewisse Töne schuld sind, wenn ein Gehirn die leisen, werbenden Klänge aus Gottes Welt nicht mehr wahrnimmt?
Wie wäre es sonst möglich, daß Denker-Fürsten und Kunst-Genies viele Male in ihrem Leben mit der endgültigen Wahrheit in Berührung kommen können ohne von ihr Notiz zu nehmen, ohne auf sie zu reagieren?
Schrillt dieses "Telefon" mit der lebenswichtigen Nachricht nicht laut genug? Hat der Ton dieser "Hausglocke" vielleicht zuviel Ähnlichkeit mit dem Geräusch, das alles überlagert?
Schon oft hat Manuela sich gewünscht, große Männer der
Weltgeschichte miteinander ins Gespräch zu bringen - ohne daß ein "intellektueller" Staubsauger den Dialog von vornherein unmöglich macht. Manuela führt die Düse unter Schränke, Polster und Tisch - und in ihrem Kopf entsteht ein Briefwechsel zwischen Männern, die sich zwar gekannt haben, aber in dieser Weise nie miteinander korrespondierten.