"Wenn du lieb bist, nenn ich dich Pünktchen!"
"Ach ne, nicht schon wieder Blumen - da streik ich aber. Irgendwas Originelles muß es schon sein - schließlich wird unsere Feldmaus nur einmal 50." "Tja, Frau Goller - also dann: hier ist der Umschlag mit dem gesammelten Geld - wer so redet, hat sicher schon was entsprechend Originelles im Auge. Wir verlassen uns auf Sie. Schluß jetzt, sie kommt."
Die Feldmaus, die eigentlich Gisela Feldmann heißt - hängt ihren grauen Mantel an den Garderobenhaken, zupft ihre beigefarbene Bluse zurecht und setzt sich an ihren Schreibtisch.
"Frau Feldmann - es piept!" sagt Peter Markert, der Azubi, und zeigt Richtung Garderobe.
Die Feldmaus stößt ihren Drehstuhl zurück, läuft zu ihrem Mantel und greift in die Tasche. "Ach, du armes Liebchen! Dich hätt ich bald total vergessen! Kannst du mir nochmal verzeihen? Was hast du denn, Kleines?" "Das Biest kann die Frühstückspause nicht abwarten," murmelt Frau Goller in ihren Karteikasten hinein und sagt dann laut: "Nun geben Sie ihm schon sein Fütterchen, damit der süße Fratz endlich aufhört, zu nerven!"
"Schon geschehen, sehen Sie mal das zufriedene Gesicht! Alles wieder gut, nicht wahr?"
Auf dem winzigen Monitor des flachen Anhängers am Hals der Feldmaus wackelt eine gezeichnete Katze mit ihrem dünnen Schwanz.
"Wie heißt eigentlich diesmal ihr Tamagotchi?" fragt Peter überfreundlich. "Ich hab zu ihr gesagt: "Wenn du
lieb bist, nenn ich dich Pünktchen!" antwortet seine Abteilungsleiterin mit zärtlichem Ton. "Sie ist ein artiges Ding, sie schläft nachts meist durch und macht nur dreimal täglich ein Häufchen. Als ich sie holte, hab ich am ersten Tag ein paarmal die Sets verwechselt, ach je, da dachte ich, sie wäre mir auch weggestorben, wie mein erstes Tami-chen. Das hatte mir meine Schwester aus Japan mitgebracht, und ich war ihr ja so dankbar dafür. Es hat mir doch sehr geholfen in der Zeit, als ich meinen Bello einschläfern lassen mußte, weil ich ihn in die neue Wohnung nicht mitnehmen konnte. Leider ist das erste Tami-chen schon nach einer Woche eingegangen, weil mir niemand erklärt hat, wie ich mit ihm umgehen mußte. Es sah auch ein bißchen seltsam aus, es hatte gar keine so erkennbare Gestalt wie mein Pünktchen, nur so einen runden Kopf mit Augen und einer Nase an der Seite. Und alle fünf Minuten mußte ich mich darum kümmern, es fraß und fraß und produzierte Häufchen am laufenden Meter, und zwischendurch wollte es gestreichelt werden und mit irgendwas spielen. So eins hätte ich auch nicht hier mit ins Büro nehmen können, dann wäre ich kaum noch zum Arbeiten gekommen. Und in Pflege geben? Zu wem denn? Als ich damals meiner Nachbarin mein Leid klagte über den frühen Tod des Kleinen, na, ich sage Ihnen, diese Frau könnte vor mir auf der Straße verrecken, ich würde eiskalt drübersteigen!"
Peter und Frau Goller kennen die Geschichte schon in- und auswendig und weil sie sich hüten zu fragen: "Und wieso ist es dann gestorben?" schickt Frau Goller Peter mit einem unwichtigen Ordner in die Buchhaltung und geht selbst zur Toilette.
Mittags in der Kantine meint Peter: "Frau Goller, ich weiß, was wir der Feldmaus zum Geburtstag holen! Wir schlagen sie mit ihrem eigenen Schwachsinn. Vielleicht wird sie dann wieder wach!"
Frau Goller zieht die Nase kraus. Peters Einfälle sind manchmal etwas makaber.
"Also, wenn du noch so ein perverses Piepsding meinst - dann kannst du mich bald mit in die Klappsmühle einweisen lassen!"
"Aber genau das ist es, Frau Goller! Nur - ich würde sagen, wir holen ihr keine zweite Katze und auch keins von diesen häßlichen Neutrums - in so einem Fernsehmagazin hab ich letztens gehört, daß es schon die übernächste Generation von diesen virtuellen Wesen gibt. Und wenn wir ihr eins davon holen, ersparen wir uns vielleicht das, was ich zuhause jeden Tag erlebe.
Peter sieht Frau Gollers fragenden Blick. "Also, mein kleiner Bruder und seine Freunde haben mit den Dingern einen neuen Sport entwickelt. Sie stopfen ihre Hunde, Katzen und Flügeltiere solange mit Futter voll, bis sie ganz krank und elend um Hilfe piepsen, und dann schalten sie auf Medizin und packen soviel Arznei auf das arme Ding, bis es endlich umfällt und den Löffel abgibt. Die Kids lachen sich halbtot über die
Gestalt, die da verdreht und leblos auf der Scheibe liegt. Wenn sie wieder Lust haben, starten sie ein neues Ei, und der Akt geht von vorne los. - Ich mein nur: damit unserer Feldmaus das Betutteln von ihrem zuckersüßen Pünktchen also nicht zu langweilig wird
und sie vielleicht auch solche Spielchen ausprobiert,
schlag ich vor, ich hör mich mal um, wo es diese allerneuesten Ausführungen zu kaufen gibt. Da sollen angeblich Menschenbabies in dem Apparat weinen
und lachen und babbeln, und größer und älter werden. Ich glaube, es gibt auch schon verschiedene Arten. Welche, die in einem Jahr eine Lebenszeit durchlaufen von der Geburt bis zu ungefähr zwanzig Jahren und wo
dann am Ende steht: im Bürgerkrieg von einer verirrten Kugel tödlich getroffen - andere fangen erst mit einem Erwachsenenalter von ca. 40 Jahren an und müssen zwei Jahre lang wie ein Frührentner-Pflegefall betreut werden.
Diese neuen Dinger kosten sicher ein paar Mark mehr, wenn man die Supermenge von neuer Software bedenkt, da da drin ist - aber ich schätze, daß die weggehen werden wie warme Semmeln, weil die Jugend ja schließlich lernen muß, Verantwortung zu übernehmen für ein anderes, hilfsbedürftiges Wesen. Und - wenn sie das ein oder zwei Jahre durchgezogen haben -"
Frau Goller verschluckt sich an ihrer Kohlroulade und muß erst mal wieder beikommen.
"Peter, - mir bleibt die Spucke weg - und was ist dann, wenn sie ein oder zwei Jahre so einem Bildschirmquengelpaket in den Allerwertesten gekrochen sind ? Kriegen die Leute dann ein Diplom für bestandene
Pflegequalifikation und werden auf die Menschheit losgelassen als Säuglingsschwester oder Altenpfleger?"
"Quatsch, dann sind sie wahrscheinlich bloß berechtigt, das Programm auf ihrem Homo-Tamagotchi neu zu starten. Wenn die Sache nicht hingehauen hat und das Baby oder der Rentner stirbt vor der Zeit, dann ist das

teure Ding kaputt und der Besitzer kann, wenn er will und Geld dafür hat, die Nummer von dem toten Teil im Internet-Tamagotchi-Friedhof beerdigen lassen und sich das Grab auf seinem PC-Monitor immer mal wieder ansehen, genauso wie es mit den lieben Tierchen auch gemacht wird.
Vielleicht paintet sie noch ein paar Blümchen rundherum und weint ihm ein bißchen hinterher. "
Frau Goller ist der Appetit vergangen. "Und dann..? Außerdem ist so ein Ding ist doch teuer, wie Du sagst."
"Klar. Die ersten Homo-Tamis sterben bestimmt genauso für immer wie die ersten Viecher. Dann muß sie sich nen neuen Anhänger kaufen, oder warten, bis sie wieder Geburtstag hat. Aber, davon gibts dann bestimmt auch bald Nachbildungen. So wie mein Bruder eins hat oder wie das, was die Feldmaus jetzt so verwöhnt - die können immer wieder neu gestartet werden, wenn ein Wesen hin ist.
Also, was meinen Sie, Frau Goller? Wär so ein Homo-Tamagotchi nicht ein klasse Geschenk für unsere Chefin? Da kann sie all ihren privaten Frust ein ganzes Jahr lang vergessen und ein zuckersüßes Baby großziehen, ihm bei den Schularbeiten helfen und ihm die Jeans flicken, bis der stramme Bursche an einem Samstag um drei Uhr mit einem Bombenknall seinen Geist aufgibt."
Frau Goller verdreht die Augen. "Du bist ein Sadist, Peter. Außerdem hast du bis dahin deine Lehre aus, aber ich werd wohl noch länger mit der Feldmaus zusammensitzen in der Mecker-Etage. Wo sie schon ausflippt, wenn ich ihre hochwohllöbliche Reklamationsabteilung so respektlos anrede, was werd
ich erst für ein Theater haben, wenn ihr geliebtes Tami-
kind stirbt. Ne, ne, denk dir was anderes aus, bevor wir allesamt unseren Verstand reklamieren müssen!"