Der Weg ins Schlaraffenland.
Heute ist ein Tag! Chaotisch fing er an - jetzt, kurz vor Mittag - bin ich wie ausgelaugt. Ich stehe vor der Pinnwand am Telefon und schaue von einem Zettel zum anderen. Den kleinen dort kann ich abnehmen, das ist erledigt. Wo ist die Notiz für den Anruf von vorhin? Schnell eine schreiben, sonst ist es vergessen! Der Antrag muß ausgefüllt werden, aber mir fehlen noch Angaben. Halb dahinter lugt ein Blatt mit der Notiz: ´Tante Hetti´ hervor. Was sollte ich denn, bitte schön, da noch mal machen? Ich habe den Überblick verloren. Ich schaffe es nicht, mich auf eine Sache zu konzentrieren und so Stück für Stück aufzuarbeiten. Ich komme mir vor wie die Leute aus dem Märchen vom Schlaraffenland. Na ja, die Leute, die versuchen, in das Land hineinzukommen. Sie müssen sich durch einen schier endlosen Wall aus Reisbrei hindurchessen. Vor mir Reisbrei, zäh und klebrig, links Reisbrei, rechts Reisbrei, hinter mir... nur nicht weiterdenken! Vorn immer hübsch einen Mund voll nach dem anderen hinunterschlucken, damit eine Lücke entsteht. Zurück gibt es keinen Weg: jeder Zentimenter, den man vorwärts kommt, macht hinter einem die Reisbreiwand wieder dicht. Es ist immer derselbe Geschmack, immer dieselbe kleine Menge, die man am Tag schafft. Wie dick ist die Wand noch? Kein Ton, kein Licht zeigt es an. Man ißt, und kriecht wieder - mehr auf Verdacht als auf Hoffnung.
Fangen so Depressionen an? Ich bekomme eine Gänsehaut. Draußen singen die Vögel, Sonne kommt durch die Wolken, aber sie macht meine Stimmung nicht heiter. Ich schalte das Radio ein. Musik soll ja eine gute Seelentherapie sein. Die Geräusche aus dem Kasten verdienen demnach die Bezeichnung Musik nicht. Wenn ich heute noch etwas zustande bringen will, brauche ich eine bessere Medizin.
Einen Handgriff weit entfernt steht meine Bibel auf dem Bücherbord, Wo soll ich aufschlagen? Ich halte mich an die für diesen Tag vorgegebenen Verse. Aber weder die alttestamentliche Stelle noch das Wort aus dem Markus-Evangelium sind mir im Augenblick eine Hilfe. Es ist noch ein längeres Textstück aus Johannes angegeben. Es schildert eine Begebenheit in Samaria und beginnt mit den Worten: Jesus kam an den Brunnen in der
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Mittagshitze und setzte sich dort nieder - denn er war müde von der Reise.
Und plötzlich ist er mir so nah! Ich sitze bei ihm auf dem Brunnenrand und er ist bei mir in diesem Reisbreigefühl. Jesus war müde! Es waren sicher nicht nur die wunden Füße und der ausgetrocknete Mund. Einen Moment lang erahne ich den wichtigeren Grund seiner Müdigkeit.
Es ging wohl um seine ganze Reise, um sein Leben auf der Erde. Seine tagtägliche Kleinarbeit, Schäden zu beseitigen, die im nächsten Moment wieder auftreten konnten; Gespräche zu führen, die den Leuten zum einen Ohr hinein, zum anderen hinausgingen. Er bot den Menschen ununterbrochen den größten Schatz aller Zeiten an, - und er war ihnen nur im Weg. Wie müde mußte seine Seele sein! Konnte ich da überhaupt noch kommen mit meinen Kleinigkeiten? "Aber gerade eben deshalb!" hörte ich mich selber sagen. Weil auch Jesus dieses tiefe Müdesein als ein Mensch empfunden hat, bin ich in all meiner Alltagsschwäsche bis ins Kleinste verstanden und angenommen. Würde ich einem Menschen meinen Kummer erzählen, könnte ich nicht mehr erwarten als teilweises Mitleid. Aber mit solchem Trost würde ich heute noch nicht einmal bis zum Abend durchhalten.
Mit Jesus ist das anders. Er bleibt nicht auf meiner Stufe stehen um gemeinsam mit mir das zu erdulden, was sich eben nicht ändern läßt. Er weiß zwar um die herzzerreißenden Müdigkeiten dieser Welt und er nimmt jede so ernst wie sie sind. Gleichzeitig bietet er als einziger einen Ausweg an, neue Kraft für Körper und Geist. Und ich verstehe das Bild, mit dem er mir an diesem Morgen diese Hilfe deutlich macht. Der Brunnen in Samaria wird von einer Quelle gespeist. Er gibt klares, gesundes Wasser schon seit Vorväter Zeiten. Keine Cola, kein Saft könnte jemals einen müden, durstigen Wanderer so erfrischen wie Quellwasser. Und so vergleicht sich Jesus selbst mit diesem Wasser. Wer ihn in sich aufnimmt, sucht nicht mehr nach besseren Kraftquellen. Ich möchte ihn jetzt auf diese Art in Anspruch nehmen. Mein Mut und meine Energie liegen am Boden. Er selbst soll in mir den Motor wieder ingang setzen. Ich brauche seine Gegenwart um einen Raum zum Atmen zu haben. ich glaube seinen Worten. Sie sollen mein Licht sein auf meinem Weg durch den zähen Alltagsbrei. Sie sollen mir Gewißheit geben, daß es noch in die richtige Richtung geht. Ich will mich daran festklammern, daß
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Jesus selbst in dieser klebrigen Masse irdischen Lebens gewesen ist. Er hat mir und allen Menschen einen freien Gang geschaffen.
Wieso war mir das eigentlich so weit weggerückt? Warum quäle ich mich noch selbst mit dem Reisbrei herum? Deutlich gesprochen: warum nehme ich nicht sofort alle meine Zettel und lege sie im Gebet vor Gottes Augen? Ich bin wieder voller Zuversicht, daß sich danach eine Reihenfolge ergeben wird, die ich bewältigen kann. Wäre doch gelacht, wenn mich meine Pinnwand terrorisieren dürfte!
Und Reisbrei ist eine ganze Weile von meinem Speiseplan gestrichen!

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