Jakob und Esau.
Auf der Suche nach einem bestimmten Bibelvers las ich wieder einmal diese Namen. Ich mußte lächeln, denn mir fielen Bilder aus meiner eigenen Kindheit ein. Ich hörte Jungenstimmen singen: Jakob und Esau storchen durch'n Salat! Gemeint waren meine kleineren Schwestern. Außer, daß auch sie Zwillinge waren, hatten sie mit den biblischen Zwillingsbrüdern überhaupt nichts gemein. Aber damals wußten die Schulkinder wenigstens noch, daß es sich bei
Jakob und Esau auch um Zwillinge handelte.Zwillinge - eine seltsame Sache. Neun Monate lang eingesperrt in einem einzigen Leib, ein Herzschlag versorgt zwei Leben, sie müssen sich mit der Hälfte des Platzes begnügen, den sonst ein Kind zum Wachsen braucht. Sind sie eigentlich e i n Wesen? Oder ein Menschenpaar, so zueinandergehörig wie ein Paar Schuhe, eins ohne das andere nicht denkbar?
Ist das so? Bei meinen Schwestern kam es uns oft so vor. Sie waren immer beieinander. Gleichgekleidet, gleichfrisiert, Sprache und Bewegungen völlig identisch.
Jakob und Esau sind wohl das interessanteste Zwillingspaar, von dem die Bibel berichtet. Ihre Geschichte fängt sogar positiver an als die Geschichte meiner Schwestern. Denn Jakob und Esau waren Wunschkinder. Nach zwanzigjähriger, kinderloser Ehe, wurde Isaaks Frau Rebekka schwanger.
Sie hatten sich die Familienerweiterung nicht aufgespart, um ein angenehmeres Leben zu haben. Zwanzig Jahre Hoffen, Beten, vergebliches Warten, vielleicht sogar gegenseitige Vorwürfe - das war ihr Alltag gewesen.
Isaak hat wohl ebenso gelitten, keine Nachkommen zu haben wie seine Frau. Wahrscheinlich war ihnen, genau wie seinerzeit Isaaks Eltern, völlig schleierhaft, wieso der wörtlich zugesagte Segen Gottes bei ihnen beiden zuende sein sollte. Wo war nun das große Volk, so zahlreich wie Sand am Meer? Isaak ging mit dieser Frage an die richtige Adresse. Zwanzig Jahre Warten hatten sein Vertrauen auf Gottes Zusage nicht erschüttert. Und Rebekka wurde endlich schwanger!
Sie muß wohl bald gemerkt haben, daß es Zwillinge werden würden, und die letzten Wochen waren für sie sicher eine Tortur. Zwillinge zu tragen ist nie einfach, aber in Rebekkas Leib spielte sich ein Krieg ab. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie so gequält wurde. Und auch sie fragte den, der allein darüber Bescheid wußte. "In Deinem Körper streiten sich zwei Völker!"bekam sie von Gott zur Antwort. Na, welche Mutter wäre über solch eine Mitteilung begeistert?
Der einzige Vorteil nach den schweren Wehen war, daß die beiden Jungen sofort hintereinander kamen. Oder sollte man besser sagen: ineinander? Der zweite hielt die Ferse des ersten fest umklammert, als wolle er ihn jetzt schon rechts überholen.
Ich versuche, mir Rebekkas Gesicht vorzustellen, als sie ihre Söhne zum erstenmal betrachtete.
Sie schaute nach links, auf den Zweitgeborenen. Ja, das war ihr Sohn! Bräunliche, zarte Haut, zierliche Glieder, große Augen. Sie liebte ihn sofort.
Und sie schaute nach rechts. Was war das? Rauhe, grobe Haut,
das ganze Körperchen bedeckt mit rötlichen Haaren. Er sah eher einem Äffchen ähnlich als einem Menschen. Selbst wenn es zweieiige Zwillinge waren - so unähnlich wie diese Brüder
haben sich wohl selten Zwillinge gesehen. Rebekka konnte sich zeitlebens nicht mit diesem Sohn anfreunden.
So unterschiedlich Esau und Jakob aussahen, so verschieden war auch ihr Charakter. Wobei gesagt sein muß, daß der schöne Liebling der Mutter durchaus nicht nur gute, angenehme Eigenschaften hatte. Nicht umsonst erhielt er schon bei der Geburt den Namen Jakob, auf deutsch: Überlister.
Sechzig Jahre lang trug er diesen Namen zu recht. Wo es darum ging, Vorteile für sich herauszuschlagen, war ihm jede List recht. Seinen Bruder Esau zu überlisten, fiel ihm bei dessen magerer Intelligenz nicht schwer. Sein Schwiegervater Laban war da schon ein gefährlicherer Gegner.
Esau und Jakob - Zwillinge wie Feuer und Wasser. Ob die Bekannten der Eltern wohl hinter der Hand geredet haben? Ob sie geglaubt haben, daß beide Kinder denselben Vater hatten?
Esau - naturverbunden, ein Jäger, er lebte, wie er es gerade für richtig befand. Er, nahm sich Frauen aus fremden Völkern, hatte keinen Sinn für die Bestimmung seiner Familie zum Segensträger Gottes. Und trotzdem war er in seiner naiven, geraden Art der Liebling des Vaters.
Jakob - intelligent, mit einem Sinn für die Feinheiten in der Auslegung von Erbgesetzen und mit einem starken Willen.Da er eigentlich gleichzeitig mit Esau geboren worden war, beanspruchte er alle materiellen Vorteile der Erstgeburt für sich. An dem Fortgang der Geschichte meine ich zu erkennen, daß er aber auch bereits eine Ahnung hatte, wieviel mehr ein Leben wert ist, wenn es unter dem Segen Gottes geführt wird. Gott hat mit Jakob nicht deswegen seine
Pläne weitergeführt, weil Jakob ein so schlaues Kerlchen war.
Im Gegensatz zu Esau war ihm wichtig, was er von den Eltern über die Zukunft seiner Familie gehört hatte, die zu einem großen, mächtigen Volk werden sollte.
Und Gott bog sich den "Überlister" zurecht, so daß er ein "Israel" wurde, ein "Streiter mit Gott" wobei die Betonung auf "mit" liegt, was in diesem Fall nicht "gegen" heißt.
Zwillinge, - es heißt allgemein, daß Zwillingsgeburten in den Familien eine Generation überspringen. Ob das immer zutrifft? Jakobs vierter Sohn Juda bekam jedenfalls auch Zwillingssöhne. Das heißt, nicht er, sondern Thamar, seine Schwiegertochter. Und trotzdem waren es Judas Söhne. So kompliziert sich das anhört waren die Verhältnisse tatsächlich damals. Thamar war die Frau von Judas ältestem Sohn Ger.
Dieser Ger starb früh, die Ehe war kinderlos. Wie es üblich war, mußte der Bruder Gers die Witwe in sein Haus nehmen und die Schwagerehe mit ihr führen, damit das Erbteil des Verstorbenen erhalten blieb. Onan, der zweite Sohn Judas, fand es zwar ganz angenehm, noch eine Frau im Haus zu haben, aber Kinder,die zwar seine waren und doch den Namen seines Bruders tragen würden, die wollte er nicht. Er wehrte sich gegen diese Bestimmung auf seine Art. Ob sein Vater wohl ahnte, warum auch dieser Sohn nach kurzer Zeit starb?
Thamar, die zweifache Witwe,war in einer dummen Lage. Juda hatte noch einen Sohn: Schela. Er muß zu dieser Zeit noch ein Junge gewesen sein. Juda schickte seine Schwiegertochter
Thamar zu ihren Eltern zurück. Er versprach ihr, sie als Frau seines jüngsten Sohnes wiederzuholen, wenn dieser heiratsfähig wäre.
Die Zeit verging, Schela heiratete, an Thamar dachte keiner mehr. Sie wurde nicht jünger,sie wollte auf ihren Anteil am Stamm Juda nicht verzichten .Auf einer Verbindung mit dem so
sehr viel jüngeren Schela bestand sie nicht.
Was war zu tun? Sie wußte offenbar gut Bescheid, was im Hause Judas vor sich ging. Judas Frau Schua war inzwischen verstorben. Anscheinend war es für Thamar nicht möglich, Juda direkt zu bitten, ihr selbst den versprochenen Nachkommen zu schaffen. So nahm sie die Gelegenheit wahr,als Juda geschäftlich in der Nähe ihres Dorfes war. Sie verkleidete sich
als Straßenmädchen und bot sich Juda an.Er ließ sich mit ihr ein, praktisch auf Kredit, denn er handelte mit ihr eine Bezahlung aus, die er nicht dabei hatte und ihr erst schicken würde.
Er ahnte ja nicht, daß Thamar die paar persönlichen Dinge, die er ihr als Pfand hinterließ, viel wichtiger waren.
Nach drei Monaten trug man Juda zu, seine frühere Schwiegertochter sei schwanger, weil sie als Dirne gearbeitet hätte.
Die Familienbande waren noch so fest, daß er das Recht hatte, sie öffentlich hinrichten zu lassen. Sein Gesicht, als er seine eigenen Pfänder erkannte, die ihm die angebliche Dirne entgegenhielt, war sicher sehenswert!!
Wie Gott die Stammväter seines Volkes ausgelesen hat, ist überraschend und spannend. Nicht der letzte Sohn Judas von seiner Frau Schua führte die Linie fort, sondern einer der Zwillingssöhne Thamars. Und wieder war es der eigentlich Zweitgeborene, der sich den ersten Platz erkämpfte. Die Schmerzen der Mutter Thamar werden überdeutlich, wenn die Hebamme schimpft: Warum hast Du mit Deinem Kommen einen so großen Riß gerissen? Dieser Perez! Sein Bruder hatte bereits das Händchen aus dem Muttermund gestreckt. Eine überaus seltene Art, geboren werden zu wollen. Wie hätte die Mutter das jemals überleben sollen? Aber schnell band man ihm einen
Erkennungsfaden ums Handgelenk. Da drehten sich die Kinder erneut, das Händchen verschwand, und der andere Zwilling kam zur Welt.
Von diesen Zwillingen ist weiter nichts bekannt,als daß Perez im Stammbaum Josefs genannt wird, dem Manne der Maria, der Mutter Jesu.
Wie wesensgleich Perez mit seinem Bruder Serach war, läßt sich höchstens erahnen, da beide Söhne mit aller Kraft versuchten, der erste zu sein, ohne Rücksicht auf die Mutter, deren Körper fast zerrissen wurde. Neugeborene Kinder gelten überall als völlig unschuldig und rein. Aber die verdorbene Natur des Menschen wächst nicht erst mit fortschreitendem Alter. Alles Gute und auch alles Böse sind schon im Ungeborenen vorhanden.
Ein Zwillingspaar, bei dem der eine Bruder völlig unsichtbar bleibt, begegnet uns im Neuen Testament.Zu den Jüngern Jesu gehörte auch Thomas. Was von ihm gesagt wird, macht ihn mir sehr symphatisch.Todesmutig entschloß er sich, mit nach Bethanien zu gehen. Obwohl auf Jesus und seine Begleiter ziemlicher Ärger zukommen konnte.Es war immerhin möglich,daß die
aufgebrachte Menge sie bedrohen würde, weil der Wunderheiler Jesus sie im Fall des jungen Lazarus so schmählich im Stich gelassen hatte.
Thomas meinte, was er sagte. Er war nüchtern und überlegte gut. Nach Jesu Tod zog er sich erst einmal zurück. Er kam mit seinen Gefühlen noch nicht ins Reine. Soviel hatte er eingesetzt für diesen Lehrer, für diesen außergewöhnlichen Mann Jesus. Sollte er sich so getäuscht haben?
Was die anderen ihm Tage später von diesen übernatürlichen Erscheinungen erzählten, kam ihm sehr mysteriös vor. Trotzdem wollte er sich selbst überzeugen. Thomas spricht dann als erster der Jünger voller Hingabe Jesus mit dem ehrenvollsten Bekenntnis an: Mein Herr und mein Gott!
Diese Worte rechne ich ihm doppelt hoch an. Und zwar, weil ich weiß, wie sehr sich Zwillingskinder beeinflussen können.
Hätte eine meiner kleinen Schwestern die andere davon abhalten wollen, mit fremden Kindern zu spielen, sie hätte es sehr leicht gehabt. Auch später brauchte eine nur ein wenig traurig dreinzuschauen und schon ließ die andere davon ab, etwas eigenständig zu unternehmen.
Thomas hat sich also von seinem Zwillingsbruder in keiner Weise beeinflussen lassen. Dieser hatte, wie es scheint, kein Interesse an der Gruppe um Jesus und an seiner Botschaft. Ob er auch versucht hat, Thomas von diesen Leuten fernzuhalten? Sollte es so sein, hatte er damit kein Glück.
So verschieden können also Zwillinge sein! Nach all diesen Dingen steht es für mich fest: Und wenn sich Zwillinge so sehr ähnlich sind, daß selbst die Mutter sie nicht auseinander halten kann: Gott schafft stets Einzelwesen, mit eigenem Denken und Fühlen, mit einem eigenen Weg und der selbständigen Möglichkeit, sich für oder gegen ihn zu entscheiden.
Meine Schwestern haben beide zu einem Leben mit Jesus Christus gefunden, und das eben auch auf zwillingsuntypische, völlig verschiedenen Weise.