Nachtgedanken.
Hannelore sitzt auf dem Bettrand. Ihr Blick klebt an dem Blumenmuster der
Tapete, ohne darauf zu achten. Ihr Atem geht heraus und herein, immer mit einem
leisen Zittern. Die Finger, im Schoß gefaltet, streichen nervös
über den Handrücken.
Da ist es wieder - dieses Gefühl, diese blöde Angst. Wie sollte sie
es sonst nennen? Angst, die keinen Grund hat, Beklemmung, die sie niemandem
erklären könnte. Aber wieso? Nur, weil es noch dunkel ist, vielleicht
zwei oder drei Uhr? Sie wagt nicht, Licht zu machen - der neben ihr
schläft, braucht ungestörte Ruhe, und helfen kann er ihr auch nicht.
Wie verläuft denn ihr Alltag? Die normale Hausfrauenarbeit plätschert
so dahin. Die spürt sie höchstens in den Armen und Schultern, aber
sie belastet nach zwanzig Jahren Routine den seelischen Haushalt nicht mehr.
Sind sonst irgendwo Probleme? Sie schüttelt als Antwort für sich
selbst den Kopf. Es muß mit den letzten Stunden des abgelaufenen Tages
zusammenhängen. Immerhin hat sie bis nach Mitternacht am Fenster gestanden
und jedes Geräusch, das von der Straße zu ihr drang, mit
überwachen Ohren gesiebt. Biegt das Auto ein? Nein, es fährt
vorüber. Jetzt schwenkt ein Scheinwerfer in die Straße! Nein, das
ist nicht das Motorengeräusch, auf das sie wartet. Endlich, endlich hat
der kleine Wagen ihrer Jüngsten vor der Haustür gehalten! Hannelore
ist im Dunkeln ins Schlafzimmer gehuscht, damit ihre Tochter nicht merkt,
daß sie gewartet hat. Als der Schlüssel sich in der Haustür
drehte und die Treppe knarrte hat sie erst wieder voll durchatmen können.
Sicher ist es nur eine Pizza gewesen, die die Jugendstunde diesmal um zwei
Stunden in die Länge gezogen hat - aber es wäre ja möglich
gewesen.... nur nicht nachdenken, nicht erst anfangen, sich auszumalen, was
hätte sein können!
Ist es das, was ihr noch jetzt den Atem zittern läßt? Vor sich
selber kann sie ehrlich sein und zugeben, daß auch die Scham hinzukommt.
Jedesmal, wenn ihre "Kleine" wieder wohlbehalten zuhause ist, schämt sich
Hannelore für ihr mickriges Vertrauen in die Fürsorge dessen, dem sie
ihr Leben und das ihrer Familie
81
doch anvertraut hat.
Und jedesmal, wenn sie wieder von Fenster zu Fenster geht und die Minuten zu
Ewigkeiten werden, in denen sie nicht weiß, wo sich das Mädchen
aufhält, hat sie nur das eine heiße Verlangen, daß kein
Unglück ihren friedlichen Alltag unterbrechen möge.
Ist sie denn weniger belastbar als andere Frauen? Einer jungen Bekannten ist
vergangenes Jahr ein Baby in der Wiege erstickt und der Sohn einer Frau aus der
neuen Siedlung verunglückte tödlich, kurz nachdem sein Vater
gestorben war. Diese Frauen ahnten eine Stunde vorher auch nichts von solchen
Schrecklichkeiten und doch sind sie weder verrückt geworden noch an
gebrochenem Herzen gestorben. Wie sie das schaffen, ist Hannelore schleierhaft.
Beide wissen nichts von einer ewigen Bestimmung für ihr Leben und rechnen
solche Todesfälle dem unausweichlichen Schicksal zu.
Ob ich von denen noch lernen kann?" geht es ihr durch den Kopf. "Wenn wir uns
beim Kaufmann begegnen, wirken sie ruhig und ausgeglichen. Aber wie mögen
ihre Nächte sein? Gibt es bei ihnen keine Stunden voll zerfleischender
Selbstanklagen?"
Das ist es, worum Hannelore für sich selbst die meisten Sorgen hat: Sollte
etwas passieren, wäre die schwerste Last das Grübeln: hätte ich
doch..., wäre ich doch bloß vorher...., könnte ich doch alles
rückgängig.......so als trüge sie die alleinige Schuld am
Unglück. Wie soll sie aber jeden Schritt bewachen, ja eigentlich sogar
voraussehen, damit keinem in der Familie je ein Schmerz widerfährt oder
gar aus der Gemeinschaft gerissen wird? Das ist doch unmöglich! Wofür
betet sie denn: Herr, Dein Wille geschehe!? Nur für ungetrübte
Freude? Für immerwährendes Beisammensein?
Wie soll sie sich innerlich wappnen für Stunden, in die es kalt
hereinweht? Soll sie sich jetzt, in diesen Minuten auf dem Bettrand, schon
ausmalen, wie es sein wird, wenn eins der Kinder nie mehr nach Hause käme,
oder wenn mit Richard etwas passieren würde? Nur damit sie, wenn etwas in
der Art geschehen sollte, sie die Probe schon bestanden hätte? Dann
müßte sie ja.... jede Sekunde, jede Stunde jeden Jahres als
möglichen Zeitpunkt des Ernstfalles durchspielen und sich darauf
vorbereiten! Wie hirnverbrannt!
Hannelore läßt sich zurücksinken und versucht, die Decken zu
ordnen. Sie gibt es auf - es ist ihr heiß, Schweiß rinnt aus ihren
Haaren.
82
Einfach schlafen, das wäre richtiger. Morgens sieht immer alles anders
aus. Eine Mücke summt an ihr vorbei. Einige Male schlägt Hannelore
nach dem lästigen Insekt. Es entwischt. Bei Richard startet es den
nächsten Angriff. Seine Hand fährt übers Ohr, er dreht sich auf
die andere Seite und blinzelt zu Hannelore hinüber. "Wieso schläfst
du nicht?" "Ich war kurz auf," sagt sie nur und faßt nach seiner Hand.
Sie verschränken die Finger ineinander. Hannelore holt noch einmal tief
Luft. Es kommt ihr selbst theatralisch vor, als sie den Bibelvers ins
Kopfkissen murmelt : Sorget nicht für den nächsten Tag...
Überm Lächeln muß sie wohl eingeschlafen sein.