M a t k a
"Was hast du denn da Feines? Zeig´s mal der Oma!"
Der dreijährige Tommy reckt den Arm und hält seiner Oma ein Holzpüppchen hin. Es hat eine einfache Form, keine Arme und Beine, aber es ist bunt bemalt. Tommy lacht, seine Äuglein blitzen. Er stellt die Puppe auf den Tisch. Dann hebt er sie hoch, und siehe da - es steht ein zweites Püppchen daneben, genauso bunt, aber etwas kleiner. Tommy hebt es hoch - und die Püppchen vermehren sich, bis fünf kleine russische Bauernmädchen einen Reigen tanzen.
Die Oma tut sehr überrascht. "Du kannst ja zaubern, Tommy!" Der Junge schiebt die größte Figur über die nächstkleinere und will sie alle wieder zusammenstecken. Aber er hat sie durcheinandergebracht. Bei der vierten will die letzte einfach nicht in den Hohlraum passen! Es dauert eine Weile, bis Tommy begriffen hat, was da passiert ist. Er schüttelt die Püppchen wieder auseinander und fängt, schlau wie er ist, bei dem kleinsten an. Die Omi hilft ihm ein bißchen, und jetzt geht es ganz leicht.
Tommys Oma sitzt am nächsten Tag vor ihrem Tages-Lesetext der Bibel und denkt: "Schade, daß keine Bilder in dieser Ausgabe sind. Ein Foto von Tommys Schachtelpüppchen würde sehr gut neben diese Verse passen. Ob Petrus, der sie einst schrieb, die kleinen Matkas kannte? Ich würde mich nicht wundern."
Zwei Briefe von Petrus an jüdische Christen sind in die Bücher des Neuen Testamentes aufgenommen worden. Die Briefe machten die Runde in den Gemeinden im Raum der heutigen Türkei.
Den Leuten dort ging es bestimmt genau so wie vor dreißig Jahren Tommys Oma. Welch großes Jauchzen spürte sie täglich in sich! Sie hatte erkannt, was Sünde ist. Sie hatte das große Geschenk der Gnade Gottes durch Christi Blut angenommen. Und sie war fest davon überzeugt, daß sie nun jeden Menschen auf der Welt lieben könnte, so wie Gott ihn liebte.
Es dauerte nicht sehr lange, bis dieses Kartenhaus einstürzte. Wie war das möglich? War nicht alles neu geworden? Wieso paßten Liebe, Erkenntnis und missionarischer Eifer nicht alle in die Hülle des Glaubens hinein?
Tommys Oma saß vor ihrem Bibeltext und nickte langsam mit dem Kopf. Erst viele Jahre später waren ihr die Verse aus dem
29
Petrusbrief aufgefallen. Er stellt die Zutaten, die ein Mensch braucht, um alle Menschen lieben zu können, in der richtigen Reihenfolge auf. Wer meint, er könne das vierte vor dem dritten in Anspruch nehmen, kriegt es nicht zusammen, er kriegt es nicht geregelt, wie Tommy sagt.
Die äußere Hülle ist vorgegeben - geschenkt von Gott - Petrus nennt sie: das Leben,das der erhält, der das Opfer Christi am Kreuz für sich in Anspruch nimmt. Das muß erst vorhanden sein, die Freude über dieses neue Leben. Geprägt von dieser Form wächst darin der Wille, gehorsam zu sein. Auch Tommys Oma hat die Gebote Gottes in ihrer Jugend als Schikane empfunden. Nun fühlt sie sich in diesen schützenden Grenzen sehr viel freier als in jeder sogenannten Selbstverwirklichung.
In dieser Tugend, wie Petrus den freiwilligen Gehorsam nennt, ist wiederum die Erkenntnis enthalten. Die Erkenntnis, wieviel anders die Pläne Gottes laufen als unsere eigenen Wünsche, und wieviel besser sein Weg mit uns ist. Aber auch die manchmal schmerzhafte Erkenntnis, wie schwer es dem alten Ich fällt, zwischen Freude und kurzlebiger Lust zu unterscheiden, und sich dann richtig zu entscheiden.
Daraus folgt logischerweise der nächste Schritt: die Mäßigkeit. Mäßig von sich selbst zu halten, weil man sich Stück für Stück selbst kennenlernt, ist nicht einfach. Mäßig von anderen zu denken, nicht zuviel von ihnen zu verlangen und sie trotzdem höher zu achten als sich selbst - das gehört in der Reihenfolge eben hinter die Erkenntnis.
Tommys Oma mußte an dieser Stelle seufzen. Aus der Mäßigkeit sollte die Geduld erwachsen. Diese Figur geht bei ihr jedenfalls nicht so reibungslos aus der vorherigen heraus. Geduld - Warten auf Gottes Handeln, wenn sie ihm eine Sache anbefohlen hat, das ist eine Kunst, die fast genausoviele Übungsstunden fordert, wie der Tag und das Leben lang sind.
Geduld mit sich selbst, wenn sie sich mal wieder irgendwo hinbeißen könnte, weil ihr Mund schneller war als ihr Kopf. Geduld mit ihren Lieben, die alle nicht so sind, als daß Oma sie getrost von ihrer Fürbittenliste streichen könnte. Geduld mit allen, denen Tommys Oma abspürt, wie krank ihre Seele ist und die doch nichts von Christus als der einzig heilenden Medizin wissen wollen.
Und wenn diese Geduld Erfolg hat, dann heißt die nächste Station doch nun endlich Menschenliebe, -oder fehlt noch was?
30
Petrus half Tommys Oma beim Sortieren und zeigt auf die passende Größe. Es ist die Gottesfurcht. Nanu? Gehört sie wirklich dahin? Sind Glaube, Tugend und all die anderen Lernergebnisse denn nicht schon ein Beweis, daß Gott mit Ernst verehrt und geachtet wird?
Tommys Oma hat in ihrem Leben viele Christen kennengelernt. Todernste, die sich kein Lachen gönnen wollten, bis nicht der letzte Erdbewohner durch sie bekehrt sein würde. Und leichtfüßige Christen, die den Heiland als Tischleindeckdich in der Tasche hatten und als dienstbaren Geist auf all ihren eigenmächtigen Wegen. Es steht den Menschen gut an, wenn ein Stück echte Furcht in ihnen bleibt vor dem unaussprechlichen, für niemanden aus eigener Kraft zu erreichenden Schöpfer und Beherrscher aller Materie und letzten Richter über alles Weltgeschehen. Nur eine gewisse Achtung vor dem liebenden Vater im Himmel, der sich über uns erbarmt hat - das reicht nicht aus, um die Tiefe der Menschenliebe zu verstehen. "Du hast mir viel Mühe gemacht mit deinen Sünden," läßt Gott Israel sagen, und damit sind alle Menschen gemeint. Er hatte es nicht nötig, uns aus den Fängen unserer eigenen Schuld loszureißen.
Glaube, Tugend, Erkenntnis, Mäßigkeit, Geduld und Gottesfurcht - ohne diese Voraussetzungen scheint es nicht möglich, zu lieben.Zwischen den Menschen , die in den neuen Vertrag durch Christus miteingebunden sind, geht es mit der Liebe genau wie in einer Familie. Sie sitzen einem "dicht auf der Pelle", wie es heißt. Auch Tommys Oma konnte sich die Leute nicht aussuchen, genauso wenig wie ihre leiblichen Verwandten. Hier zeigt es sich am ehesten, was man gelernt hat. Manchem fällt es leicht, andere, so wie Tommys Oma, haben da immer noch ihre Schwierigkeiten trotz jahrzehntelanger Übung.
Petrus hat den Gemeinden diese Bauanleitung aber nicht gegeben, damit sie sich die Zähne daran ausbeißen sollen. Er erinnert die rein gewordenen Menschen nur immer wieder daran, wie wichtig es ist, alle Voraussetzungen beisammen zu haben. "Wer solches aber nicht hat, der ist blind und tappt im Dunkeln und hat vergessen, daß er rein geworden ist von seinen vorherigen Sünden."
Der kleine Tommy findet es ganz prima, daß bei seiner Oma im Glasschrank nun auch eine bunte Matka steht. Warum - das wird er bestimmt später einmal verstehen.
31
32