Sehet nun zu, was ihr auf den Grund bauet....
"Wie ist so was möglich, wie ist so etwas nur möglich...?" Marianne
legt den Telefonhörer so vorsichtig und langsam auf, als wäre er ein
rohes Ei. Gerhard sieht ihr Kopfschütteln und ihren erschrockenen,
zugleich traurigen Blick. Er stoppt ihre immer wieder geflüsterte Frage
mit einem ungeduldigen: "Was denn nun? Wer war denn dran?"
Marianne holt tief Luft. "Das faßt du nicht - das ist einfach nicht zu
glauben." Gerhard blättert wieder in seiner Zeitschrift und schaut
Marianne schräg von der Seite an. "Dann eben nicht."
"Gerhard! Ich bin bestimmt nicht auf den Mund gefallen, aber - wie ich dir in
zwei Sätzen wiedergeben soll, was Andreas mir da eben erzählt hat, -
also, das hat mich so vom Hocker gehauen, das muß ich erst noch selber
verdauen. Stell dir vor: Ein Mann - dreißig Jahre vollaktiv in der
Missionsarbeit, drei Jahrzehnte rund um die Uhr ein ausgezeichneter Seelsorger,
zufrieden mit einem Leben aus mageren Spendentöpfen - nicht zu vergessen
seine weltweiten Verbindungen zu den größten Predigern,
Missionswerken und wer weiß welchen wichtigen Leuten. Es war eine
Vorzeige-Familie, was Durchhalten und Zusammenarbeit angeht - und jetzt
muß sein engster Mitarbeiter den Leuten sagen, daß unser Supermann
unter den Evangeliumsverkündigern in seinem hohen Alter beschlossen hat,
seine Frau zu verlassen und ein Verhältnis zu legalisieren, das er bereits
seit Jahren mit einer anderen Frau unterhält, die nur halb so alt ist wie
er."
Gerhard läßt seine Zeitung sinken. Sein Mund steht offen, klappt
wieder zu, und das Kopfschütteln seiner Frau geht langsam aber sicher auch
auf ihn über.
"Damit kannst du ja nur einen meinen, Marianne. Und du bist ganz sicher ? Du
hast da nicht was falsch verstanden?"
Mariannes Gesicht wird noch ernster. "Ich möchte, es wär so, Gerhard.
Aber Andreas hat Klartext gesprochen. Und das Schlimmste daran finde ich,
daß dieser Ausrutscher in den dritten Frühling von dem neuen
Liebespaar auch noch begrüßt wird als ein liebgemeintes Geschenk
Gottes, sozusagen als eine Belohnung für langjährige treue Arbeit im
Weinberg des Herrn - so der Originalton."
Gerhard legt den Kopf in den Nacken und fixiert einige Sekunden die
Zimmerdecke.
"Jetzt ist mir auch klar, warum das mit dem Gebäude nicht geklappt hat!"
Gerhard faßt sich an den Kopf. "Der Kauf und die Finanzierung, wie toll
hörte sich das alles in seiner Schilderung an! Angeblich fehlte nur noch
eine Unterschrift - und das Haus würde in den Besitz der Mission
übergehen!" Marianne schlägt die Hände zusammen. "Und alles war
nur Schau! Nur Luftschlösser! Wie konnte er sich einbilden, so viel Geld
flösse aus einem Spendentopf, wo seine eigenen Verhältnisse sich
derart chaotisch entwickelt hatten!"
"Chaotisch ist nicht das richtige Wort, Marianne - sag ruhig: salomonisch!"
Marianne stutzt und schaut irritiert. "Wie?" "Salomonisch!" "Drehst du jetzt
ab? Was ist denn an seinem Entschluß, sich scheiden lassen, bitte
schön, salomonisch? So gut kann doch keine Erklärung sein, daß
sein Ungehorsam zu entschuldigen wäre!"
"Und trotzdem sag ich: salomonisch, Marianne. Die Parallelen sind doch
frappierend! Salomo, der König: Wie unbestechlich und gerecht waren seine
Urteile, wenn es um andere ging! Die beiden Frauen, die sich um ein
übriggebliebenes Baby stritten - das war doch das Musterbeispiel
schlechthin. Und wer zählt all die anderen Fälle, wo die Kontrahenten
nach Hause gingen und waren hochzufrieden mit dem, wie Salomo entschieden
hatte. Von Jugend auf hatte er vielleicht noch eine engere Verbindung zu Gott
als sein Vater David, sonst hätte er im Gespräch mit Gott nicht so
einmalig weise reagiert. Sein Gefühl und sein Verstand waren darauf
eingerichtet, das zu wollen, was Gott für richtig hielt. Und daß das
funktionierte, das heißt, das es auch äußerlichen Segen
einbrachte, das hat er so praktisch erfahren wie vor ihm kein anderer
Führer dieser schwierig zu lenkenden Volksstämme. Keiner war so reich
wie er, keiner genoß soviel Ehre unter den Herrschern im vorderen Orient
damals. Aber dann - wie ging es mit ihm, als er alt wurde?"
Marianne seufzt. "Du hast recht. Salomonisch. Das Ende gehört leider auch
zu diesem außergewöhnlichen König. Er hatte alles -
tatsächlich. Ich würde sogar fast sagen, wie ein verwöhntes
Kind. Er hatte Spielzeug in Hülle und Fülle, wenn man nur an die
edlen Pferde und die Gespanne denkt, die er hielt und sogar einen schwunghaften
Handel damit trieb; und die Mengen Gold und Edelsteine, die jährlich an
seinen Hof kamen, ohne daß er einen Finger dafür krümmen
mußte. Und erst seine Frauen! Gerhard, das war das Spielzeug, wovon man
bei Kindern gesagt hätte: Messer, Gabel, Schere, Licht - sind für
kleine Kinder nicht!"
"Du sagst es, Marianne. Das war seine Schwachstelle, über die ist er
gestolpert. Hast du mal durchgelesen, aus welchen Weltecken er sich seinen
Harem zusammengekauft hat? Und vor allem, aus welchen Kulturen - wenn sie
überhaupt als solche bezeichnet werden konnten? Er hatte moabitische,
ammonitische, edomitische, sidonitische und hethitische - alles Völker,
die sein Vater bis aufs Blut bekämpft hat und die in ihrer
Götzenverehrung als große Gefahr für Israel galten! Salomo, der
Friedenskönig, war viele Jahrzehnte lang ein Zeugnis für die
Gegenwart des lebendiges Gottes - und der alte Salomo erlaubt jeder seiner 700
Haupt- und 300 Nebenfrauen ihren eigen Tempel bauen zu lassen. Und das
Schlimmste: er kniet sich vor diesen greulichen Götzen auch noch hin und
betet sie mit an!
Unfaßbar!"
"Aber Gerhard, damit kannst du unseren altgedienten Missionar nicht
vergleichen. 1000 Frauen hat der nicht gesammelt, und die eine Frau, für
die er seine Gefährtin der letzten vierzig Jahre eingetauscht hat, die hat
ihn auch nicht verführt, Christus zu verleugnen - im Gegenteil, sie ist
doch schon seit Jahren selbst entschiedene Christin und hat sehr oft zusammen
mit seinem Team Missionseinsätze durchgeführt.
"Wenn du mich fragst, ist das im Grunde noch schlimmer, Marianne. Überleg
mal: wenn eine ihn verblendet hätte, die vom Evangelium, von Sünde
und Vergebung absolut keine Ahnung hätte, - da würden wir sagen: Ach,
der arme Mann! Da ist er aber bitter reingefallen! Sicher hat sie ihm
vorgespielt, daß sie gerne auch so glauben möchte wie er und dazu
dringend seine ganze Zuwendung und Hilfe braucht - oder so ähnlich
jedenfalls. Aber in dem Fall? Beide bestärken sich gegenseitig in der
Meinung, Gott wäre völlig damit einverstanden, daß er seine
Familie verläßt und mit ihr eine neue Ehe eingeht! Salomo hat selbst
in seinem Altersschwachsinn -das wage ich einfach mal zu behaupten- für
seinen Ungehorsam offensichtlich nicht den Gott Israels als Komplizen
herangezogen! Aber darüber wissen wir leider nichts Genaues."
Marianne steht am Fenster und schaut den Kindern zu, die auf der Straße
spielen.
"Wie es jetzt wohl weitergehen wird? Andreas deutete so etwas an, als
würde der komplette Zweig der Mission sich auflösen, weil keiner mehr
unter so einer Leitung arbeiten will. Aber es gibt wohl auch Stimmen, die
möchten die ganze Organisation neu gestalten und das kranke Glied
entfernen - vornehm ausgedrückt. Was würdest du für besser
halten?"
"Natürlich die zweite Lösung! Ist doch klar! Ich komm in der Sache
nicht von der Beziehung zu Salomo los. Das Brett vor dem Kopf war und ist bei
beiden alten Männern gleich, da spielt es glaube ich keine Rolle,
daß der eine im Geld schwamm und der andere jeden Pfennig umdrehen
muß. Mir ist die Entwicklung sonnenklar, was ihre Arbeit betrifft.
Was an Positivem gelaufen ist in all den Jahren, das wird bleiben. Viele, viele
Menschen haben durch die Predigten zu Christus gefunden und sind dabei
geblieben - und die Menge der Hilfesuchenden, die er in sein Haus aufgenommen,
verpflegt und betreut hat - Mensch, Marianne, das sind Dinge, die kann keiner
vom Tisch wischen, genau wie die gute Zeit, die Israel unter der Herrschaft
Salomos erlebt hat. Aber er selbst? Hoffentlich geht es ihm auch darin
ähnlich wie Salomo, daß Gott ihn nochmal ganz persönlich
anspricht, und ihm seinen Traum vom erlaubten Ehebruch gründlich
zerstört."
"Weißt du was, Gerhard? Ich wollte ihm sowieso nächste Woche zu
seinem 70. Geburtstag eine Karte schreiben. Ich werde ganz einfach das Kapitel
aus dem 1.Buch Könige als Grußvers drauf schreiben. Er kennt sich
zwar in der Bibel besser aus als wir beide zusammen, aber vielleicht wird ihm
dann doch einiges bewußt."
"Ja, mach das! Es will mir sowieso schon nicht in den Kopf, daß sein
Black-out, wie es heute so vprnehm heißt, tatsächlich immer noch
anhält, obwohl er sieht, wie die Arbeit, die er aufgebaut hat, schon ein
anderer in die Hand nimmt, genau wie Salomo das erleben mußte.
Marianne schaut Gerhard an. "Weißt du - wir reden die ganze Zeit
darüber, wie unmöglich sich ein Mensch benehmen kann, der es
eigentlich besser wissen müßte. Einer, der als großes Vorbild
galt und nun noch nicht mal beschämt ist über das Bild, das er
abgibt. Uns wird uns doch genauso ergehen. Unser Gedächtnis ist ja so
kurz! Mir fällt gerade diese Stelle im Korintherbrief ein: Es ist kein
anderer Grund gelegt als Jesus Christus. Sehet nun zu, was ihr auf diesen Grund
baut, sei es von Gold, Silber, Stein oder von Stroh. Zuletzt wird alles
geprüft durchs Feuer, und was keinen Bestand hat, das verbrennt. Aber das
Gold wird geläutert und bleibt. Kannst du dich noch an die heiße
Diskussion erinnern, die wir mit Redkamps hatten? Sie hatten große Angst,
daß auch Menschen, die sich auf Christi Erlösung berufen, sich das
Anrecht aufs ewige Leben durch eigene Dummheit verscherzen könnten. Sicher
haben wir viel dummes Zeug zusammengeredet und viel Gelegenheiten zum Zeugnis
für Christus verpatzt. Einiges ist uns gelungen, es hat Frucht getragen
und wird bleiben. Ich schätze, bei mir bleibt noch nicht einmal so sovel
übrig, wie von der guten Arbeit unseres Missionars oder von der
Friedensherrschaft Salomos. Aber selbst, wenn alles verbrennen würde wie
Stroh - den festen Grund in Jesus, der bleibt unsere Garantie. Und jemand, der
sich immer wieder freut über dieses tragfähige, wunderbare Fundament,
dem kann es doch nicht egal sein, ob die Materialien für das Haus darauf
wertlos sind.
"Wenn unser lieber Freund wüßte, was uns durch seine Entgleisung
alles wieder klar geworden ist - schreib ihm davon lieber nichts. Wirst du
nochmal mit Andreas reden über den weiteren Fortgang der Umorganisation?
Vielleicht können wir ja irgendwie helfen. Ich bin mal gespannt, was aus
dieser Misere für Wunder herauskommen!"
Gerhard macht es sich auf dem Fernsehsessel bequem und schaut auf die Uhr.
"Möchtest du vor den Nachrichten zu Abend essen oder hinterher?" "Am
liebsten vorher, könnte sein, daß ich danach deinen leckeren
Fleischsalat mit einem zu schlechten Gewissen esse, wegen all der Menschen, die
nichts davon abbekommen können!"
"Das ist mein Gerhard," denkt Marianne und setzt das Teewasser auf.