Jerusalem, 15. Nisan 3760
Sollte je einer mein Tagebuch in die Hand bekommen, ist mir das auch gleich.
Nach allem, was in diesen Tagen passiert ist, kann mich so schnell nichts mehr
erschüttern.
Dabei habe ich den Anfang der Katastrophe gar nicht selbst mitbekommen. Simon,
Andreas´ älterer Bruder, hat mir vorgestern abend im Palasthof von
Kaiphas schnell das Wichtigste erzählt. Wie der Meister und seine
zwölf ständigen Begleiter den ersten Tag der ungesäuerten Brote
gefeiert haben, und wie sie danach alle zusammen in die Parkanlage Gethsemane
gingen. Das heißt, dieser Mensch aus Iskarioth war nicht dabei, der war
wohl schon früher vom Tisch aufgestanden und hatte angeblich was Wichtiges
zu erledigen. Simons Stimme überschlug sich fast, als er beschrieb, wie
dieser Schurke plötzlich im Park aufgetaucht sei und den Meister
freundlich begrüßt hätte, als wäre alles in bester
Ordnung. Und das, obwohl der Verräter schon während der Mahlzeit
begriffen haben muß, daß Jesus wußte, wer den Hohepriestern
den Tip mit der günstigen Verhaftungsmöglichkeit geben wollte. Diese
ganze blamable Aktion habe ich dann leider miterlebt. Wir wohnen ja am Westende
des Parks, und ich hörte den Tumult, als ich grade aus der Sauna kam.
Meine Mutter rief mir noch nach: Lauf nicht mit nassen Haaren nach
draußen! Wenn sie gewußt hätte, daß ich außer
meinem Saunalaken in der Eile nichts übergezogen hatte - au wei! An
solche Kleinigkeiten konnte ich doch in diesen Minuten nicht denken!
Auf dem Weg zum Palmentor stand der Meister und vor ihm jede Menge
schwerbewaffneter Soldaten. Laternenlicht schaukelte zwischen den Bäumen,
trotzdem war es dunkel genug. Jesus und seine Begleiter hätten leicht
untertauchen können. Aber er blieb stehen und sprach mit der Wache. Was
war mit unserem Meister los? Wollte er gefangen werden? Fragte er doch
tatsächlich: Wen sucht ihr denn? Und die Blödmänner wußten
bloß, daß sie einen gewissen Jesus verhaften sollten - aber wie der
aussah, davon hatten sie keinen Schimmer! Auch als dieser hinterlistige Judas
kam und ihnen mit einem Begrüßungskuß das verabredete Zeichen
gab, standen die Soldaten immer noch wie dumm herum und wußten nicht, was
sie tun sollten.
Ich kann überlegen soviel und solange ich will - ich begreife nicht, warum
der Meister in dem Augenblick nicht gesagt hat: Ihr könnt mich alle mal"
und ist genauso unbehelligt weggegangen wie schon zigmal vorher. Ich dachte
immer, niemand könnte ihm etwas antun! Er hat doch oft gesagt: Mein Vater
im Himmel schickt viele Legionen Engel, wenn ich sie brauche! Statt dessen kam
so ein Pimpf auf ihn zu, hielt ihn fest und schrie: Wenn du der Jesus aus
Nazareth bist, verhafte ich dich hiermit im Namen des Gesetzes!
Ich stand hinter Andreas und fühlte mich wie angewachsen. Petrus ist da
anders! Plötzlich schrie jemand vor Schmerz und der Soldat neben Jesus
taumelte. Petrus steckte gerade sein Schwert wieder weg. Jetzt gehts los!
dachte ich - aber da habe ich mich zu früh gefreut. Anstatt, daß der
Meister die Gelegenheit beim Schopf packt und schleunigst verschwindet,
faßte er den Soldaten an seinem verletzten Ohr, und - das Blut
verschwand, das Ohr war heil! Johannes Markus, hab ich zu mir selbst gesagt, du
bist ein Dummkopf!
Du kennst den Meister schon so lange und hast noch nicht begriffen, wie er
seine Feinde schachmatt setzt! "Was er da getan hat, rettet ihn besser vor
Schmerz und Schaden als Flucht und Gegenwehr! Ein Soldat, der ihm so sehr zu
Dank verpflichtet ist, wird niemals zulassen, daß dieser Wundermann
verhaftet wird.
Wie konnte ich nur so danebenliegen? Die Soldaten kümmerten sich einen
Dreck um ihren verletzten und wieder geheilten Kameraden. Ob er für seinen
Wohltäter gebeten hat, konnte ich nicht hören, jedenfalls kam in die
Gruppe der Bewaffneten Bewegung. Sie fesselten Jesus, einige liefen hinter
Petrus und den anderen her. Erwischt haben sie keinen, dafür waren die
Jungs plötzlich viel zu schnell auf den Beinen. Im Gleichschritt
führte die Wache den Meister aus dem Park hinaus Richtung Stadt. Wäre
ich da bloß nach Hause gegangen! Aber ich mußte so vorwitzig sein
und der Gruppe hinterherschleichen. Und das in einem weißen Leintuch, das
sogar im Dunkeln auffiel! Ich hörte noch: "Gajus! Ausschwärmen! Da
hinten ist noch einer von der Sorte!" Und dieser Gajus war verflixt schnell. Er
erwischte mich am Laken. Da war mir alles egal! Ich ließ los und lief im
Adamskostüm zurück in den Park, sprang über die hüfthohe
Mauer und schlug zehn Sekunden später die Haustür hinter mir zu.
Mutter zog zwar die linke Augenbraue hoch, als sie mich so ohne alles
hereinstürmen sah, aber sie sagte nichts. Auch dann nicht, als ich zwei
Stunden später ins Dorf hinunterging. Im Palasthof des Hohenpriesters traf
ich Petrus wieder. Mutiger Petrus! Du hälst i h m die Treue! Ich durfte
ihn mit in den Verhandlungssaal nehmen. Was die angeblichen Zeugen gegen den
Meister aussagten, war haarsträubend, aber es kam noch schlimmer. Die
Hohenpriester stellten Jesus die unlogischsten Fragen. Er konnte antworten oder
auch nicht - alles wurde zu seinem Nachteil ausgelegt. Petrus konnte das nicht
mehr mit ansehen, er ging wieder in den Hof. Später suchte ihn ihn beim
Feuer, aber er war schon gegangen.
Dann kam der Rüsttag! Heiliger, unaussprechlicher Schöpfergott!
Laß diesen Tag nicht geschehen sein! Die Sonne soll sich
zurückdrehen! Sie soll solch einen Tag nicht ankündigen und ihn nicht
durchlaufen! Sie hat es auch nicht fertiggebracht, das schreckliche Ereignis zu
bescheinen. Hätte sie sich sonst auf der Höhe ihrer Leuchtkraft
hinter dem Mond versteckt und Finsternis ausgeschüttet über das
Land?
Warum? Gott, warum? Den besten, den einzigen, den wahrsten Menschen, der je
lebte, hast du sterben lassen wie den schlimmsten Kriminellen! Wo warst du,
Herrscher der Heerscharen, als er schrie? Wo waren deine Engel? Ist das der
Dank für sein Vertrauen zu dir? Wer bist du, Gott Abrahams? Lebst du
noch?
Der Rüsttag ist vergangen. Nichts regt sich. Kein Werk wird vollbracht!
Der Herr braucht Ruhe! Und sein Sohn? Wieviele Male hat Jesus betont: Ich und
der Vater sind eins! Jetzt liegt er im Grab, tot, machtlos, gescheitert und
gott-verlassen!
Der Sabbat in diesem Land dauert zwölf Stunden. Wielange mag Gottes Sabbat
dauern? Ist für immer Schluß mit seinen Zusagen, seinem Interesse an
uns? War alles Lüge, was wir über ihn hörten?
Wo Petrus und die anderen sein mögen? Morgen, wenn das sogenannte Leben
wieder anfängt, werde ich sie suchen gehen. Morgen... gibt es wirklich ein
Morgen?