Laß dich fallen!
Wenn sich der Sommer aus unserem Dorf verabschiedet, winken ihm schon früh die weißen Fahnen aus vielen Schornsteinen nach. Es weht ein scharfer Wind bei uns auf der Höhe, und jeder sucht die Wärme. Nicht nur die Menschen wissen den Platz am Ofen zu schätzen!
Auf meinem Gang zum Aschenkasten höre ich lautes Zwitschern und Pfeifen. Oben auf unserem Kaminrand streiten sich die schwarzen Amseln um die beste Stelle nahe am warmen Luftstrom.
"Na, ihr Hüpferchen! Paßt auf und treibt es nicht zu toll!" Ich weiß, was ich sage! Unwillkürlich horche ich in den nächsten Stunden auf die Geräusche im Haus. Hab ich´s doch geahnt! Ein Flattern im Kamin - mal stärker, mal schwächer - aber unverkennbar!
Ich sprinte in den Keller und nehme den Verschlußstein vom Kaminloch. Wieder das aufgeregte Flattern. Wo mag der kleine Kerl sein? Noch so nah am oberen Rand, daß der Luftzug ihn wieder hinausträgt? Oder schon so tief unten, daß ihm der Ruß und die Hitze aus dem Ofenrohr schwer zu schaffen machen?
Ich schabe die lose Asche vom Ausgangsloch in einen Karton, damit mehr Licht in den Schacht fallen kann. Das Geräusch hat den Vogel wieder ängstlich gemacht, er versucht wohl verzweifelt, sich mit den starr ausgebreiteten Flügeln an den Kaminwänden festzuhalten. Eine ganze Weile stehe ich still vor der Luke und warte ab. Plötzlich pufft eine Rußwolke heraus, ein Fiepsen und Rutschen - da schauen zwei blanke Äuglein aus dem Loch. Ein total verrußtes Federbündel schnellt in die Höhe und hüpft aufgeregt auf meinen Wäscheleinen mit der frischgewaschenen Wäsche hin und her. Aber es ist frei! Ich bin sehr erleichtert, seine Flügel sind noch heil. Bis der schwarze Geselle durch das Treppenhaus hinauf durch die Haustür wieder in sein Element zurückfindet, das dauert noch fast eine halbe Stunde. Zum Glück kenne ich schon die kleinen Tricks, die ihm den Weg in die Freiheit erleichtern. Wo er hinfliegen soll, mache ich soviel Licht wie möglich, Eingänge, die für ihn nur eine Sackgasse wären, versperre ich mit allerlei Sachen und mache dort dunkel. Wenn ich daran denke, in welchen unmöglichen Kellerecken sich seine Vorflieger schon verklemmt haben!
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Jetzt fliegt er wieder um den Dachfirst herum. Ob er den warmen Kaminrand für eine Weile meiden wird? Ich kann ihn nicht beobachten, mein Tagesprogramm kommt sonst ganz durcheinander.
Mit doppeltem Elan will ich mich gerade wieder an meine Nähmaschine setzen, da schrillt das Telefon.
ich höre die Stimme der Anruferin und denke: Das Beste wird sein, ich hole mir einen Stuhl - das kann ein langes Gespräch werden! Ich erfahre alle Einzelheiten über das Unglück, das über sie und ihre Familie in den letzten Wochen hereingebrochen ist. Wenn es so dramatisch war, wie sie die Dinge erzählt, ist sie nahe daran, unter ihren Sorgen zusammenzubrechen. Wie kann ich sie nur trösten, wo soll ich anfangen?
Plötzlich meint sie: "Wenn ich bloß wüßte, wieso gerade wir so gestraft werden, das ist doch unfair, das haben wir bestimmt nicht verdient!" Soll ich darauf eingehen? Dann sitze ich morgen früh noch hier. Ich möchte zu ihr viel lieber von der Person sprechen, die sie mehr als dringend braucht, um ihr Leben in Ordnung zu bringen. Mir steht das Bild des gefangenen Vogels wieder vor Augen. Hat es nicht eine direkte Parallele zu ihrer Lage? Hängt sie nicht genauso irgendwo in einem dunklen Kamin und versucht krampfhaft, sich aus eigener Anstrengung zu befreien? Hinauf kann sie nicht mehr, das heißt; was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden; nirgends sieht sie ein Licht, alles scheint hoffnungslos. Ich unterbreche ihren Redeschwall. "Liebe Frau F., ich möchte Ihnen gern kurz was erzählen - was heute morgen passiert ist. Stellen Sie sich vor, es war eine Amsel bei uns im Kamin.."
Ausführlich erzähle ich ihr, wieso es dem Vogel möglich war, die Freiheit wiederzubekommen. Er hatte sich nach einer Weile des Sträubens freiwillig in die unbekannte, dunkle Tiefe fallen lassen, wo nur ganz, ganz unten ein kleiner Schimmer Licht zu erkennen war. Auf diese kleine Hoffnung zu hatte es das Tierchen gewagt, seine Flügel zusammenzuklappen und sich einfach sinken zu lassen. Und es hatte nicht umsonst gehofft - der kleine Lichtfleck war tatsächlich der Ausgang in die Freiheit gewesen!
Frau F. hört mir still zu. Ich will sie gerade fragen, ob sie sich in diesem Bild wiedererkennt. Da holt sie Luft:"Ja, Sie haben recht, es ist gut, wenn man mal an was anderes denkt, sonst wird man ja verrückt. Es wird schon wieder alles in Ordnung gehen,und wenn
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man es richtig betrachtet, ist es halb so schlimm. Wir sind noch immer davongekommen - Unkraut vergeht nicht!"
Sie lädt mich noch zu ihrem Geburtstag in der nächsten Woche ein, dann ist das Gespräch beendet.
Warum fällt es den Leuten nur so schwer, ihrer ausweglosen Lage einmal voll ins Gesicht zu sehen? Es ist ja nicht so, als hätte sie von mir heut zum erstenmal gehört, daß ihr Leben falsch verläuft. Wir haben wirklich schon oft darüber geredet . Was muß geschehen, damit sie zugibt, mit dem, was sie belastet, aus eigener Kraft nicht mehr fertig zu werden? Wie schwer muß denn eine Last sein, bis ein Mensch um Hilfe ruft?
Ich gönne ihr ganz bestimmt nichts Böses. ich wünsche ihr ein fröhliches,problemloses Leben - aber ich wünsche ihr vor allen Dingen, daß sie in den Punkt kommt, wo sie sich fallen läßt. Wo sie auf ihre eigene Kraft nicht mehr zählt und sie die Hilfe Gottes freiwillig an sich geschehen läßt. Die Hoffnung, daß dies sehr bald sein möge, gebe ich nicht auf. Und wenn ich daran nur ein Stück mithelfen kann, wäre ich sehr froh.
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