Verpaßte Ankunft
Personen: Hanna, die alte Prophetin, Susanna, ihre Tochter, Nathan, ihr Schwiegersohn
Susanna: "Nathan, weißt du wo Mutter schon so früh hin ist?"
Nathan: "Wo wird deine Mutter schon sein? Da, wo sie jeden Tag ist: im Tempelvorhof!"
Susanna: "Aber sonst geht sie erst, wenn sie was gegessen hat! Ich weiß nicht, sie war gestern abend schon so seltsam unruhig. Ist denn heute irgendein Gedenktag, oder so?
Mutter vergißt zwar meist, was wir kurz vorher besprochen haben, aber die alten Sachen behält sie dafür um so besser."
Nathan: "Keine Ahnung, Susanna. Ich hab die letzten Tage kaum mit ihr gesprochen. Sie konnte erzählen, was sie wollte - immer kam sie über kurz oder lang auf euren Vater, der schon über 50 Jahre tot ist."
Susanna: "Ja, sie sprach viel von ihm und von der wunderbaren Zeit, auf die er gewartet haben soll. Mich hat sie auch mehrmals am Tag gefragt, ob ich mich noch an seine Worte erinnern würde.Dabei weiß sie doch genau, wie klein wir damals noch waren. Ob sie jetzt langsam eigenartig wird?"
Nathan: "Mir ist sowieso schleierhaft, was sie all die Jahre immer in den Tempelhallen will. Ins Allerheilgste darf sie doch nicht, und wenn sie noch solange davor herumsteht. Die Priester und was da sonst ein- und ausgeht - die kennt sie
mittlerweile besser als unser Haus, sag ich mal."
Susanna:"Ach, Nathan, laß ihr das bißchen Abwechslung. Sie hat nicht viel vom Leben gehabt. Mit uns vier Kindern war es schwer, ohne Mann und ohne festen Verdienst.. Ich war so froh, daß Du erlaubt hast,Mutter bei uns wohnen zu
lassen. Sie hilft wirklich noch viel mit, trotz ihrer 84 Jahre. Soll sie ruhig unter Leute gehen. Im Tempelvorhof ist immer was los. Die Händler, die Geldwechsler, die Besucher mit ihren verschiedenen Opfergaben - da gibt´s den ganzen Tag was zu sehen und zu hören."
Nathan :"Na ja, ich sag ja auch nicht, daß ich Deiner Mutter den Spaß nicht gönne. Ob es ihr aber um den lauten Betrieb, um den Zeitvertreib geht? Wenn sie manchmal so erzählt,hört es sich an, als lebte sie mehr in der alten Zeit und träumte von den großen Königen, die Israel einmal hatte. Aber das sind ja nun wirklich unnütze Wunschträume."
Susanna:"Nathan! Also weißt du! So hast du noch nie über Mutter gesprochen!"
Nathan: "Mir ist das auch erst in letzter Zeit aufgefallen. Jahrelang meinte ich, sie ginge in den Tempel wegen diesem Simeon.Sie sprach so oft von ihm, und ich hab gedacht: Sieh an, sieh an! Die beiden Altchen verstehen sich scheinbar
recht gut. Muß ja ein gebildeter Mensch sein, dieser Simeon. Und er spricht mit deiner Mutter so normal über viele Dinge, wie mit einem Mann. Das imponiert ihr bestimmt."
Susanna: "Simeon? Ist das nicht dieser Hobby-Schriftgelehrte? Onkel Hilkia machte vorige Woche noch Witze über ihn. Simeon legt sich manchmal mit dem Onkel an, weil er meint, er wüßte in den alten Schriften besser Bescheid als die
gelehrten Schriftkenner."
Nathan: "Susanna! Guck mal!Da kommt Mutter Hanna ja!"
Susanna:"Was? Jetzt schon? Und so flott! Ob was passiert ist? Mutter, geht´s dir gut? Oder ist was mit Simeon?"
Nathan:"Susanna! Laß sie sich doch erstmal setzen und verschnaufen! Komm, Mutter, hol mal tief Luft und dann erzähl, was war!"
Hanna:"Heute nachmittag geh ich ihn besuchen! Noch heute nachmittag!"
Susanna: "Hast du Simeon denn nicht getroffen? War er nicht in der Stadt?"
Hanna: "Doch, ja! Er war sogar vor mir im Tempel, und wie!"
Susanna:"Und nachher gehst du ihn besuchen? Mutter, ist alles in Ordnung?"
Hanna: "Ja, wunderbar in Ordnung, meine Kinder! Wunderbar! Herrlich!"
Susanna: "Nathan, sollen wir den Arzt rufen? Mutter, was ist passiert?"
Hanna: "Ach, ihr zwei! Wenn ihr wüßtet! Er ist gekommen! Endlich, endlich!"
Susanna: "Wer denn, Mutter? Simeon? Ich versteh überhaupt nichts mehr."
Hanna: "Das könnt ihr auch nicht verstehen, Susanna! Ihr wißt ja nichts von Simeon und nichts von dem, über das wir schon seit Jahren sprechen! Ihr wollt ja auch nichts wissen! Wir sind für euch nur alte Träumer, die sich mit irgendwas beschäftigen müssen, weil sie zuviel Zeit haben. Aber er ist wirklich da, er ist geboren - er lebt! Und wir werden sehen, wie sich alles erfüllt! Das heißt: Simeon und ich werden es nicht mehr selbst erleben, aber ihr- ihr könnt dabei sein! Ihr seid noch jung genug."
Susanna: "Nathan, kapierst du, wovon Mutter spricht?"
Nathan: "Mir schwant so was. Es könnte sein...., hört sich an, als ginge es um diese Messias-Legende. Meine Mutter hat sie uns früher als Bett-Geschichte erzählt, und hin und wieder ist an den großen Feiertagen im Tempel davon die Rede. Aber wie gesagt: nichts Genaues weiß man nicht."
Susanna: "Nathan! Du sollst nicht so reden! Wenn es in den alten Rollen steht, wird es wohl irgendwas zu bedeuten haben. Vater sagte immer: die Dinge sind noch jedesmal so eingetroffen, wie sie aufgeschrieben sind - oder so ähnlich."
Hanna: "Und ich habe den Messias gesehen! Heute morgen im Tempel! Mit seinen Eltern! Vielleicht hätte ich ihn von mir aus nicht direkt erkannt, aber Simeon trug das Kind auf den Armen, und ich hörte genau wie er sagte: "Nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, o Herr, denn meine Augen haben
deinen Heiland gesehen!Das Gesicht der Mutter hättet ihr sehen sollen! Sie sog die Worte auf wie Honig!
Dann gab Simeon ihr den Jungen zurück, legte den Eltern die Hände auf den Kopf - genau wie ein richtiger Priester- und er segnete sie. Er beugte sich noch zu der Mutter und sagte - die Worte werde ich nie mehr vergessen - Sieh, dieser wird gesetzt zum Fall und zum Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird- und dann seufzte er und sagte noch: Auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen, damit die Gedanken vieler Herzen offenbar werden -
I c h weiß, was Simeon damit gemeint hat! Dafür haben wir lange genug über alles geredet, was über den kommenden Messias in den Schriften der Propheten steht! -
Aber - ich muß heute noch zu Simeon. Es könnte sein - er ist nicht mehr lange unter uns. Vor ein paar Wochen erst hat er mir erzählt, welche Zusage er von Gott persönlich bekommen hat:
Er dürfte noch solange leben, bis er den Trost Israels mit eigenen Augen gesehen hätte. Und jetzt hat er ihn gesehen! Wer weiß, wieviel Zeit uns noch bleibt für all die Dinge, die ich ihn fragen will!"
Nathan: "Mutter Hanna, macht ihr beide euch nicht selbst was vor? Simeon hat all die Jahre auf diesen "Erlöser" gewartet.Jetzt fühlt er wahrscheinlich, daß es mit ihm zuende geht, und er nimmt das erstbeste Kind auf den Arm und erklärt
es für die Erfüllung seiner Wünsche. So sehe ich das!"
Hanna: "Das hätte ich mir denken können, Nathan! So, wie du werden die meisten Leute reagieren. Aber heute im Tempel hat sich die Welt verändert, meine Lieben! Und wir waren nicht die einzigen, denen plötzlich die Augen aufgingen. Ich konnte mit verschiedenen Besuchern über die Zeichen dieser Sache sprechen, und sie waren fast erschrocken, wie alles zusammenpaßt.
Susanna, erinnerst du dich denn nicht mehr an die vielen Abende, an denen ich euch Kindern von den alten Verheißungen erzählt habe? Daß aus dem Stamm
Davids ein großer König geboren wird, von Gott selbst gesalbt, bestätigt als rechtmäßiger Nachkomme Davids und Salomos. Ich habe das auch den Besuchern im Tempel gesagt. Viele Leute standen um uns herum und haben es gehört. Sie staunten auch über das, was der Vater des Kindes - ein Josef, aus Nazareth gebürtig - erzählte. Dieses Kind, wenn es ein Mann geworden ist, wird unser Volk retten! Simeon und ich sind davon überzeugt, daß er nicht nur für Israel die goldenen Zeiten wiederbringen wird.Er wird auch die Heidenvölker
mit dem Herrn der Herren versöhnen - so wie es die Propheten geweissagt haben!
Susanna: Mutter, du sagst, der Vater wohnt in Nazareth? Das ist aber Galiläa, daher stammte aber David nicht. Du hast uns erzählt, Bethlehem wäre seine Stadt gewesen.

Hanna: "Siehst du, Susanna, etwas hast du doch behalten, sogar bis heute, wo du selber Kinder und Enkel hast. Es stimmt, der Sproß aus dem Stamm Judas -wie der Prophet schreibt, kommt aus Bethlehem. Und dort wohnen Josef und
seine Frau seit einigen Wochen. Sie kamen wegen der Volkszählung her und bleiben noch einige Zeit. Heute haben sie den Sohn im Tempel offiziell angemeldet, weil die Schonzeit der Mutter vorüber ist. Josef gehört zum Stamm
Juda, in direkter Linie von David und Salomo. Aber es gibt noch mehr Beweise für das , was ich sage:
Josef berichtete, wie der Sohn angekündigt wurde durch den Erzengel Gabriel,- so hat sich die Erscheinung selbst vorgestellt- und daß er, Josef, der Pflegevater sein darf von diesem Kind, das von einem unberührten Frauenkörper geboren wurde!"
Nathan: "Susanna! Hör dir das an! Mutter, was redest du da? Zuerst sagst du, es war ein Vater und eine Mutter mit dem Kind da, und dann soll die Mutter bis zur Geburt eine Jungfrau gewesen sein? Das du so etwas glaubst!"
Susanna: "Nathan, laß Mutter doch ausreden! S i e hat sich das doch nicht
ausgedacht! Wenn einer diese Geschichte erfunden hat, dann die Leute mit dem Kind. Mutter ist eben so gutgläubig. Und wenn wirklich was dran ist? Daß einmal ein Gesalbter dem Volk die Freiheit bringen wird, davon spricht auch Onkel Hilkia - aber von einer Jungfrau, so wie du es dir vorstellst, hat er nichts gesagt. Sag, Mutter, was war denn noch?"

Hanna: "Ach es lohnt sich eigentlich nicht, euch davon zu erzählen. Aber ich muß es einfach weitersagen! Es ist zu herrlich, zu unausdenkbar!"
Nathan: "Ja, ja, Mutter, unausdenkbar ganz bestimmt - aber herrlich schon mal gar nicht. Irgendwer hat den guten Leutchen mal die alten Geschichten aus vergangenen Kulturen erzählt, wo besondere Herrscher angeblich von Jungfrauen geboren wurden. Und jetzt meinen sie, sie könnten damit ihren
Kleinen als etwas Besonderes verkaufen. Und außerdem, Mutter: das mit den Heiden! Da kann ja wohl was nicht stimmen. Die Heiden haben ihre Götter. Israel hat nur einen Gott, und der hat mit Heiden nichts zu schaffen! Simeon
und du, ihr zwei habt euch da in was hineingesteigert! Jetzt weiß ich auch, Susanna, warum dein Onkel Hilkia mit diesem Simeon nicht zurechtkommt!"
Susanna: "Also Mutter, mir ist das Ganze auch nicht geheuer! Was hat dieser Josef und seine Frau vor? Wollen die Eltern ihren Sohn zu einem Revolutionär erziehen? Da fangen sie aber früh an! Und wenn er dann das gleiche Schicksal hat, wie die anderen Aufrührer vor ihm? Erst kürzlich ist einer umgebracht worden, wie hieß der noch, Nathan?"
Nathan: "Meinst du den Judas aus Galiläa? Das war ein Kerl wie ein Baum - und jetzt ist er stumm und seine Bande hat sich in alle Winde verstreut."
Hanna: "Aber jetzt ist der Richtige gekommen, Nathan! Die Zeit ist erfüllt, ob ihr´s glaubt, oder nicht! Und dieses Kind braucht keine Mörderbande zum Terror aufzuhetzen, - weil er der rechtmäßige König sein wird. Kommt, laßt uns schnell etwas essen, und dann mach ich mich auf den Weg zu Simeons Haus. Hoffentlich ist es nicht zu spät! Simeon muß mir noch erzählen, was der Zimmermann Josef ihm von den verschiedenen Engelserscheinungen gesagt hat.Ja, ihr habt richtig gehört! Engel - Erzengel Gottes sind erschienen, sichtbar und hörbar, und haben die Geburt dieses Kindes angekündigt und befohlen, es Jesus zu nennen. Jesus - eindeutiger geht es doch nicht, ihr Lieben. Und dann
die junge Mutter! Die hat es wahrhaftig nicht leicht gehabt! Nur ein zugiger Tierstall als Bleibe für die Geburt ihres ersten Kindes, und eine Futterkrippe als Wiege für den König aller Könige!"
Nathan: "Hör auf,Mutter! Das meinst du doch wohl nicht ernst! Leute aus der ärmsten Bevölkerungsschicht waren das? Leute, die mit Hirten verkehren? - Und dann soll der Sohn ein König werden? Sogar König von Israel, Nachfolger auf dem Thron Davids und Salomos? Was habt ihr euch da nur zusammengereimt, liebe Schwiegermutter! Eins ist ja wohl klar: Wenn der richtige Messias wirklich mal auftauchen sollte, dann wird das im Tempel bekannt sein.Sag selbst: Hat der
Hohepriester heute eine Sondermeldung verkünden lassen? Haben die Schriftgelehrten die Eltern und das Kind wenigstens zu sich gerufen und mal nachgefragt, was da gelaufen sein soll? Na, siehst du!"
Hanna: "Nathan, Susanna! Ach..., was.. Ich weiß, was ich weiß! Ihr werdet es ja sehen! Leider dauert es noch 2o oder 3o Jahre, bis die Wahrheit herauskommt; aber dann wird ihm unser Volk zujubeln."
Nathan: "Ja, .. sicher, Mutter! Wenn du meinst. Sprich mit deinem Simeon. Ich glaub, seine Begeisterung von heute morgen wird schon ganz schön abgekühlt sein. Erinnere dich mal an deine eigenen Worte. Hat dieser Simeon nicht zu der
jungen Mutter gesagt: ein Schwert wird auch durch dein Herz dringen? Also nimmt es mit diesem Volkserlöser wohl auch ein schlimmes Ende. Wie könnt ihr da enthusiastisch von kommenden herrlichen Zeiten träumen?!
Susanna: "Und wenn sie doch recht hat, Nathan? Es gibt Leute in der Stadt, die nennen Mutter sogar Hanna, die Prophetin! Und Simeon? Vielleicht hat er seine Informationen wirklich von Gott direkt. In früheren Zeiten soll ja so etwas vorgekommen sein! Es wäre doch wunderbar, wenn wir endlich in Frieden leben könnten!"
Nathan: "Wenn oder aber! Susanna! Komm auf den Teppich! Was hilft es uns jetzt? Und wenn die beiden Alten recht haben sollten! Sie sagen selbst, es dauert noch Jahrzehnte, bis sich was ändert. Aber die fremden Besatzer sind heute da!
W i r müssen sie ertragen! W i r müssen die ungerechten Zölle bezahlen, ecetera. Deine Mutter und dieser Simeon sind bald aus dem Schneider - na, ist doch wahr! Ankunft des Messias! Wenn ich das schon höre! Ankunft des Königs -
und liegt in den Windeln! Bei unserer Ältesten kommt bald auch ein Schreihals an, aber den wird keiner als Volkserlöser feiern - dafür geht bei dem zuviel in die Hose!"
Susanna: "Nathan! Gut, daß Mutter Dich nicht mehr gehört hat! Eben ist sie die Straße runter gegangen, Richtung Altstadt zu Simeons Haus - und das ohne Frühstück! Aber - hat Du ihr Gesicht gesehen? Wenn dieses Kind, das heute morgen im Tempel war, die Leute so froh macht - Nathan.... ich hätte doch
Mutter in all den Jahren besser zuhören sollen - vielleicht hätte ich dann nicht so viel Sorge um die Zukunft unserer Kinder und Enkel und könnte mich mit dieser alten, weisen Frau freuen."