Liebe Maria,
schon lange hatte ich mir vorgenommen, Dir zu schreiben, aber ich war, ehrlich
gesagt, ein bißchen eingeschnappt und habe darauf gewartet, daß Du
Dich melden würdest.
Vorletzten Sabbat traf ich nun zufällig Deinen Verlobten auf dem Weg in
die Synagoge - und jetzt muß dieser Brief einfach sein, sonst platze
ich!
Maria! Wie kannst Du froh und dankbar sein, daß Deine Familie Dir diesen
naoven Trottel zum Mann ausgesucht hat! Stell Dir vor, der glaubt Dir Deine
Geschichte mit der Schwangerschaft ohne Mann aufs Wort! Ich kann zwar noch gar
nicht fassen, wie Du, meine schüchterne, gehorsame Maria, es
fertiggebracht hat, an den Augen der Mutter vorbei einen anderen Liebhaber zu
treffen und Dich mit ihm zu einigen - na ja, es ist wohl nicht mehr zu
übersehen!
Wer das wohl ist, den Du mit Deiner phantastischen Story so unbedingt decken
willst? Das würde mich brennend interessieren! Haben sich Deine Leute denn
nicht den Bauch gehalten vor Lachen, als Du ihnen den Besuch des "lichthellen
Gottesboten" geschildert hast - in allen Einzelheiten und mit aller
Gefühlsaufwallung, die Du gehabt haben willst?
Du mußt in Dir eine Maria haben, die ich bis jetzt überhaupt nicht
kannte, meine Kleine! Eine so gute Schauspielerin zu sein, die die Eltern, die
Geschwister und sogar den eigenen Verlobten mit so einer Geschichte benebeln
kann - das hatte ich Dir nicht abgeschossen! War das denn überhaupt
nötig, es soweit kommen zu lassen? Du hättest Dir die Vorstellung
sparen können, wenn Du mich rechtzeitig gefragt hättest. Ich kenne
genug Adressen und alles wäre ohne Aufhebens zu regeln gewesen.
Aber das Tollste ist: Dein Josef, dem Du das alles auch noch auf die Nase
binden mußtest, Du Dummchen, der hat die Sache gefresen und sogar noch
ausgewalzt! Wenn Du es noch nicht weiß, weil ihr Euch zwischendurch nicht
gesprochen habt, will ich Dir den Hergang brühwarm schildern. Josef hat
mir gegenüber offen zugegeben, daß er nach Deinem theaterreifen
Auftritt tagelang hin- und hergerissen
war, wie er sich verhalten sollte. Warst Du Dir eigentlich darüber im
klaren, daß er Dich ohne weiteres hatte anzeigen können und im
schlimmsten Fall die Todesstrafe der Steinigung auf Dich gewartet hätte?
Du wärst doch wohl nicht so borniert gewesen, bei Deiner Darstellung mit
dem Himmelsboten zu bleiben, nur um den Namen des Kindesvaters nicht
rausrücken zu müssen? Ich wage ja nicht, das zuende zu denken! Du
mußt nämlich wissen, liebes Cousinchen, daß ich trotz allem
fest zu Dir halten werde. So was kann schließlich jedem Mädchen
passieren; und warum solltest Du zu dem herzeleid, wo der Schuft Dich
sitzengelassen hat, auch noch die Härte des Gesetzes ertragen?
Jedenfalls - um auf Deinen Josef zurücjzukommen: Er konnte den Gedanken,
daß Dir ein Leid geschehen würde, nicht ertrage; trotz deiner
offenbar gestorbenen Liebe zu ihm.
Hut ab vor ihm! Er hatte beschlossen, sein Haus, seine Firma und die Familie
klammheimlich zu verlassen und irgendwo unterzutauchen. Sollten doch alle
denken, er hätte Dich vor der offiziellen Eheschließung zur Mutter
gemacht. Sollten sie ruhig die Schuld auf ihn schieben! Also weißt Du,
Maria: solch einen mutigen Trottel müßte ich zum Ehemann haben! Ich
würde ihm die Krümel von den Schuhen lecken!
Und dann erzählt mir dieser Mensch, er hätte eine Erscheinung gehabt!
Einen Traum oder was auch immer. Jedenfalls hätte genau so eine
energiesprühende Person zu ihm gesprochen wie zu Dir. Und die hat ihm
angeblich befohlen, Dich nicht zu verlassen, sondeern Dich schleunigst zu
heiraten und das ungeborene Kind wie seinen eigenen Sohn aufzuziehen. Ja,
"Sohn" hat er gesagt! Als wäre das schon beschlossene Sache! Und die
Person habe ihm, dem Josef, glaubhaft versichert, daß kein anderer Mann
Dich berührt habe, geschweige denn noch mehr vorgefallen sei. Und,
daß dieses Kind aus der Kraft des Höchsten, Unausprechlichen,
entstanden sei und mit ihm Dinge passieren würden, die auf der Erde noch
nie geschehen sind.
Hast Du eine Ahnung, was damit gemeint ist? Wenn Dein Josef sich das alles ganz
alleine ausgedacht hat, ist er cleverer, als er aussieht - denn: wer kann ihm
schon das Gegenteil beweisen? Und bis der oder die Kleine erwachsen ist,
weiß von den Beteiligten keiner mehr, was Sache war.
Wenn aber Ihr beide, Du und Dein Kind, dienigen seid, von denen unser alter
Rabbi schon seit -zig Jahren faselt, weil er in den Büchern etwas von
einer schwangeren Jungfrau gelesen hat, deren Sohn unserem Volk die Freiheit
bringen soll - ja, der sogar für die HeidenHunde einen Weg ins Paradies
schaffen wird - also, wenn Ihr das tatsächlich seid - denn bin ich die
Letzte, die was gesagt haben will!
Liebe Maria, laß mal wieder was von Dir hören! Paß auf Dich
und das Kind auf!
Es grüßt Dich
Deine Cousine
E s t h e r
Liebe Esther,
bitte verzeih, wenn dieser Brief etwas länger unterwegs sein wird. Ich
schreibe Dir nämlich aus dem Haus der Elisabeth, einer entfernten
Verwandten meiner Mutter. Das Dorf, in dem Elisabeth und ihr Mann Zacharias
wohnen, liegt abseits der großen Straße. Ich bin seit zwei Wochen
bei Tante Elisabeth und helfe ihr im Haus und im Garten. Onkel Zachrias ist
Tempelpriester in Jerusalem; aber seit vorigen Winter ist er vom Dienst
freigestellt, weil er nach seiner letzten Amshandlung im Allerheiligsten
plötzlich die Sprache verlor. Er kam aus der Hauptstadt zurück und
konnte nicht mehr sprechen, stell Dir vor! Was Tante Elisabeth dann aus seinen
Gesten und Erklärungsversuchen erfuhr, erschien ihr so unglaublich,
daß sie es keinem weitererzählt hat.
Deinen Brief, liebe Esther, hat mir ein befreundeter Handwerker mitgebracht. Er
kommt seit vielen Jahren hin und wieder zu uns ins Dorf und repariert Schuhe
und anderes Lederzeug. Als meine Eltern hörten, er käme auch hier in
dieses Gebirgsdorf, gaben sie ihm Deinen Brief mit. Ich habe mich sehr
über Deine Anteilnahme an mir gefreut, Esther. Du bist eine der wenigen
Menschen, die zu mir halten und mir ihre Hilfe anbieten. Selbst meine Mutter
war zuerst mißtrauisch und sehr traurig, daß ich sie so
hintergangen haben sollte; wo zwischen uns nie ein böses Wort gefallen
ist. Dann aber hörte ich, wie sie zu unserer Nachbarin sagte: Frau Nabal,
meine Maria lügt nicht! Wenn sie sagt: es war kein Mann im Spiel, dann
glaube ich ihr. Und im übrigen: warum sollte meine Tochter nicht die
Auserwählte sein, auf die die letzten Getreuen im Land schon so furchtbar
lange warten?
Du kannst Dir denken, Esther, wie froh ich war, daß wenigstens Mutter mir
glaubt. Meine Brüder haben mich von dem Tag, an dem sie von der Sache
erfuhren, mit keinem Blick mehr angesehen. Sie haben eine Zeitlang zwar jeden
jungen Mann ihrer Bekanntschaft in Nazareth und Umgebung regelrecht bedroht und
ausgefragt, ob einer von ihnen eventuell der "edle" Spender dieses ungeplanten
Nachwuchses sei, aber um der Blamage willen haben sie es dann aufgegeben.
Eine Woche später machte ich mich auf den Weg hierher. ich brauchte
einfach selbst etwas Festes, an das ich mich halten konnte. Ich wollte
unbedingt wissen, ob ich den unwirklichen Besuch und seine unfaßbare
Botschaft nicht doch nur geträumt hatte. Also ging ich zu Tante Elisabeth.
Die Eltern ließen mich tatsächlich alleine gehen! Sie sind wohl
froh, daß ich eine Weile aus dem Blickfeld bin. Tante Elisabeth ist meine
Lieblingsverwandte, schon seit meiner Kindheit. Weil sie keine eigenen Kinder
haben, bekamen wir von ihr und Onkel Zacharias einen großen Teil ihrer
Liebe ab. Sie waren auch oft bei uns zuhause. In ihrem Dorf wurden sie
nämlich von den Leuten ziemlich geschnitten. Die abenteuerlichsten
Gerüchte waren im Umlauf über die schrecklichen Dinge, die sich Onkel
und Tante hätten zuschulden kommen lassen. Daß er Priester ist,
verschlimmerte die Sache noch. Und - daß eine große Schuld auf den
beiden lasten mußte, dafür gab es für die Nachbarn keinen
Zweifel - schließlich verweigerte ihnen der Himmel den Kindersegen!
Und nun das! Tante Elisabeth ist im siebten Monat schwanger! Ich erfuhr es von
der Lichtgestalt, die auch mir meinen Sohn ankündigte. Noch spüre ich
nichts von dem Leben in mir, aber es muß da sein, denn die Frist, die mir
sonst den normalen Verlauf im Monatszyklus anzeigte, ist bereits zweimal
verstrichen.
Um die Mittagszeit kam ich den Weg zu Onkels Haus herauf. Tante Elisabeth zog
das Tor zum Garten hinter sich zu und trug einen kleinen Korb mit Obst. Sie sah
mich kommen. Sie streckte die Arme aus und rief erstaunt meinen Namen. Sie
umarmte mich stürmisch und trat dann einen Schritt zurück. Eine Hand
hielt sie auf den runden Leib gepreßt. Ihr Gesicht strahlte vor
Glück. "Es hat sich bewegt, Maria! Ganz deutlich, und viel stärker
als sonst! Fast so, als wäre mein Kind vor Freude gehüpft, als es
Dich sah! Nun weiß ich es ganz genau: Mein Kind hat den kommenden
Herrscher in Dir gegrüßt!"
Esther, ich schwöre Dir: ich hatte noch kein einziges Wort über die
Lippen gebracht! Woher wußte sie, daß ich schwanger war, und das
ich diejenige war? Zacharias konnte es ihr nicht gesagt haben. Und es ist auch
unwahrscheinlich, daß Fremde es ihr erzählt haben. Wer auch, wo mir
doch keiner glaubt!
Mir wurde so eigen zumute, eigentlich sollte ich lieber sagen: so mutig zu
eigen. Ich sagte zu Tante Elisabeth:"Du, ich könnte laut heraus singen!
Alle sollen es hören! Hast Du nicht auch manchmal gedacht: der Heilige im
Himmel hält es nur mit den Mächtigen und Großmäuligen?
Aber was jetzt geschieht, ist ganz anders. Die größten
Veränderungen läßt er durch unscheinbare, scheinbar unwichtige
Menschen geschehen. Er ist auf unserer Seite. Und einmal wird es allen Menschen
klar werden, wer das letzte Wort behält!"
O Esther! Und ich komme in den weltbewegenden Plänen auch vor, so wie
Tante Elisabeth und ihr Sohn. Ich kann es noch immer nicht recht fassen! Und
wie froh war ich darüber, daß alles stimmte, was ich erlebt habe! Es
war kein Traum, keine Einbildung - der Engel war da! Die Tatsachen, von denen
er sprach, sehe ich nun mit eigenen Augen. Die Nachbarn von Onkel und Tante
wundern sich recht unverhohlen. Tante Elisabeth hat sich ja fünf Monate
lang nicht aus dem Haus getraut. Sie wollte keinen unnötigen Wirbel
machen, um dann vielleicht noch wegen einer Scheinschwangerschaft ausgelacht zu
werden. Jetzt fühlt sie es aber deutlich, wie ihr Kind lebt und bald
geboren werden möchte. Sie lacht und flüstert mir gerade zu,
daß sie am liebsten den ganzen Tag der Bagage rechts und links eine lange
Nase drehen möchte. Das Grübeln der langen, kinderlosen Jahre ist
für sie vorbei. Alle wollten ihr Furcht einreden vor dem zornigen
Unausprechlichen. Sie hatte nicht dagegen zu setzen in den Augen der
überheblichen Mütter und Väter. Nun fühlt sie sich
überreich bestätigt. Sie hat sich die Güte des unbegreiflichen
Adonai nicht ausreden lassen, und er hat sie in allen Dingen rehabilitiert. Er
hatte sie nicht verstoßen - im Gegenteil! Sie ist auserwählt, einem
besonders wichtigen Menschen das Leben zu schenken.
Muß ich Dir noch mehr erzählen, um Dich zu überzeugen? Ich kann
Dir kaum schildern, wie glücklich ich bin! Josef und ich werden heiraten,
sobald Tante Elisabeth niedergekommen ist. Das hat er mir unter Deinen Brief
schreiben lassen. Was Josef Dir über seinen Traum erzählt hat, finde
ich wunderbar!
Auch, daß er mich schützen wollte und alle böse Nachrede auf
sich nehmen. Esther, ist das nicht herrlich? Wie sehr muß er mich lieben!
Ich wünsche Dir solch einen Mann als Lebensgefährten, es kann Dir
nichts Besseres geschehen!
Der Weg, der vor mir liegt, wird bestimmt nicht einfach. Eine Kostprobe davon,
wie die Menschen mit mir und meinem Sohn umgehen werden, habe ich ja schon
erfahren. ich wünsche mir von meinem Josef viele Kinder, dann werden sich
die Leute vielleicht nicht mehr das Maul zerreißen.
So wie es aussieht, werden wir zur Zeit meiner Entbindung nicht in Nazareth
sein. Um diesen Termin herum muß Josef sich in Bethlehem einfinden, und
ich werde wohl mit ihm reisen. Onkel Zacharias zeigte mir gestern einen
Erlaß des römischen Kaisers. Alle Einwohner der römischen
Provinzen müssen sich in Steuerlisten eintragen lassen und zwar in den
Geburtsstädten der Stammväter jeden Geschlechts.
Wirst Du auch mit Deiner Familie dahingehen? Ihr stammt doch auch aus dem
Geschlecht des Königs Davids, wie wir. Ob wir uns in Bethlehem sehen
werden? Ich fände es schön, wenn Du bei mir wärst, wenn es
soweit ist. Aber bange ist mir nicht. In Bethlehem gibt es viele gute
Unterkünfte.
Das Blatt ist vollgeschrieben. Tante Elisabeth und ich werden nachher noch
durchs Dorf gehen und einige Besorgungen machen. Sie wird ihr neues
Umstandskleid anziehen und stolz und froh den Kopf heben über ihrem
gewölbten Leib, der für alle schon seit langem als unfruchtbar und
abgestorben galt.
Und ich werde nicht mehr herumdrucksen, wenn mich jemand nach dem Grund meines
Besuches fragt. Sie werden die Wahrheit schlucken oder es lassen. Mit den
Folgen ihrer Entscheidung müssen sie selbst einmal fertig werden.
Laß es Dir gutgehen - Schalom, liebe Esther, und sei herzlich
gegrüßt von
Deiner
M a r i a