Die tausend Augen unter der Schulbank
"Mutter, wann kriegen wir denn endlich mal ne richtige Einkaufstasche?" "Red
keinen Quatsch, Jung, los leg deine Bücher solang hier hin, ich brauch
deinen Tornister, ich muß ins Konsum!" Widerwillig holte "Pummel" seine
Hefte, den Griffelkasten und die Schwammdose aus der Schultasche. Lesebuch,
Rechenbuch und Sprachbuch - jedes hatte einen Schutzumschlag aus
uni-dunkelblauem Papier - aber der sah interessant marmoriert aus mit den
Farben von Mehlstaub, Möhrensaft und sonstigen nahrhaften Spuren der
Einkaufsgänge seiner Mutter. Andere Kinder konnten ihren Tornister
pikobello sauberhalten und deren Hefte waren ohne Fleck und Eselsohr. Andere
Mütter hatten auch große Stofftaschen mit Henkel, die wurden nur
fürs Einkaufen benutzt; und die anderen Familien mußten auch
verflixt sparen, weil der Krieg noch nicht lange aus war und der Vater von
manchen Kindern war gefallen.
Horst "Pummel" Seifert konnte nie lange verdrossen sein. Er vergaß den
Tornister, das lästige Einkaufen und spielte mit seinem Bruder und den
anderen Kindern vom Hof "Dritten abschlagen", bis sie rein mußten.
"Los, Jung, du kommst zu spät!" "Ja, ja, ist erst zehn vor acht!" Pummel
hielt es mit der Gemütlichkeit. Er schnallte den Tornister auf den
Rücken und trabte los.
"Trööt" - ging die heisere Hupe zum Unterrichtsanfang. Jede Klasse
stellte sich in Zweierreihen auf, Jungs rechts, Mädchen links. Rektor Rood
erschien auf der Treppe, er setzte die Trillerpfeife an und Gruppe für
Gruppe ging die Stufen hinauf in ihren Klassenraum.
Struwwel - das heißt - Lehrer Pätzold mit seinem
krausen Haarschopf- kam herein. Alle Kinder standen zur Begrüßung
auf. "Guten Morgen, Herr Pätzold!" "Guten Morgen, Kinder.
Wir singen eine Strophe: Die güldne Sonne. Die Mädchen sangen, von
den Jungen versuchten es auch einige. Danach das gemeinsame, kurze Morgengebet
- und alle durften sich wieder setzen. Dieter war der Griffel auf den Boden
gefallen, Ingrid und Margret hatten leise geflüstert. "So geht das nicht,
Kinder! Alle nochmal
aufstehen! So, und jetzt leise und ordentlich: Setzen!"
Das war in den engen Bänken gar nicht so einfach, besonders für die
Jungen, deren Knie allmählich mit dem Pultdeckel Krach bekamen.
"Für heute hattet ihr die Seite 16 im Sprachbuch auf, also nehmt euer Heft
heraus und die Bücher!"
Die Tornister hatten ihren Platz unter dem Schreibpult auf einer Ablage, also
den Lederranzen ein Stück nach vorn geholt, die Schnallen aufgeknipst und
den Deckel zurückgeklappt. Automatische Bewegung, viele Male an jedem Tag
- auch von unserm Pummel. Irgendwas stimmte aber nicht mit dem guten
Stück. Ein paar Zentimeter zu weit rausgezogen wohl aus dem Fach, die
Verschlüsse runtergedrückt - und die ganze Sache kriegte
plötzlich das Übergewicht. Der Ranzen rutschte, alles, was drin war,
fiel heraus - nein, es fiel nicht - es rollte! Es waren nämlich keine
Schulbücher, kein Griffelkasten oder sonstige eminent wichtigen Dinge, die
da rechts und links und überall an Pummel vorbei kollerten, hüpften
und unter Bänken und Pulten verschwanden. Es waren mindestens zehn Pfund
Kartoffeln, und Pummels schamrot angelaufenem Gesicht nach zu urteilen,
mindestens tausend einzelne Blamage-Knollen, die die ganze Misere der
hauseigenen Einkaufsmanier bloßlegten. Weder Lehrer Pätzold, noch
die Schulkameraden haben dem armen Pummel die Sache krumm genommen. Aber die
tausend Augen unter der Schulbank sind noch fast fünfzig Jahre später
ein herzhaftes Gelächter wert.
Horst Seifert "Pummel"