Ich habe keinen Menschen!
Wie lange habe ich die Geschichte von dem Kranken am Teich Bethesda nicht mehr gelesen! Nun liegt sie - ach wie so auffällig zufällig! - wieder aufgeschlagen da, und die Szene rund um das Wasserloch vor der Jerusalemer Stadtmauer steht mir plastisch vor Augen. Blinde, Lahme, Menschen mit Knochenschwund und andere Schwerkranke - ob sie in Reih und Glied um den Teich herumsaßen oder -lagen? Wielange es wohl jedesmal dauerte, bis es wieder so aussah, als käme Bewegung in die spiegelglatte Wasseroberfläche? Alle, die darauf hofften, konnten den Blick keinen Augenblick wegwenden, sonst hätten sie die nächste Chance verpaßt! Aber wer war der Glückliche, der im richtigen Moment in den Teich sprang und dann geheilt, gesund herauskam?
Es mag Kranke gegeben haben, die ihre Chance, als erste ins Wasser zu kommen, aus eigener Kraft nutzen konnten. Blinde und Lahme, so schätze ich mal, waren auf die Hilfe ihrer Angehörigen angewiesen. Da niemand vorhersehen konnte, wann das Wasser im Teich anfing zu brodeln, zitterten sicher viele Behinderte darum, ob gerade in diesem Moment jemand bei ihnen sein würde, der sie mit kräftigen Armen in aller Eile ins Wassr tragen konnte. Die Aussicht darauf war für manchen Schwerkranken sicher so vage wie das Warten meiner Nachbarn auf einen Sechser im Lotto. Trotzdem gab es Kranke, für die diese fünf Hallen rund um den Teich Bethesda die letzte Station, der letzte Strohhalm von Hoffnung auf Genesung war. Der Mann aus dem Bericht im Johannes-Evangelium stand mir da als drastisches Beispiel vor Augen.
In der endlosen Kette der Stunden, die dieser Mann vor den Toren Jerusalems, an diesem Teich, verbracht hatte, gab es dann einen Tag, an dem sich alles veränderte. Jesus kam zu ihm. Er hatte erfahren, daß dieser Kranke schon 38 Jahre hier zugebracht hatte, also fast ein ganzes Leben! Jesus spricht diesen Mann an.
Fragt er ihn:" Na, wie gehts uns denn?" oder "Kopf hoch, es wird schon wieder!"? Noch nicht einmal: "Dein Glaube hat dir geholfen!" sagt Jesus. Achtunddreißig Jahre körperliche Schwäche, achtunddreißig mal 365 Tage ohne Aussicht auf ein normales, gesundes Leben mit Familie, Beruf, Zukunft! Da sind alle platten Vertröstungen fehl am Platz.
Jesus fragt ihn etwas. Und er trifft damit mitten ins Zentrum. "Willst du gesund werden?" Will einer noch gesund werden, wenn die Jugend, die Manneskraft, die Liebe, achtunddreißig Jahre lang an ihm vorübergegangen sind wie Schatten, - wie eine fremde, unerreichbare Welt?
Will er wirklich von vorne anfangen? Zumindest bricht die Frage bei ihm den Damm des Schweigens, den er um sich herum aufgebaut hatte. Er schreit heraus, was ihn all die Jahre am allermeisten wurmte. "Herr, ich habe keinen Menschen!" Er hat keinen, der ihn ins heilende Wasser trägt! Es fand sich in all den Jahren kein Mensch, der ihm diese Chance eröffnet hat - und an diesem Punkt ist er hängen geblieben. Wozu sollte er sich überlegen, was sein würde, wenn ? Es gab eben kein Wenn - an dem Punkt liefen seine Gedanken vor die Wand. Und jemanden, mit dem er über alles hätte reden können? Da existierte wohl auch keiner. Ob es Menschen gab, die sich noch danach sehnten, ihn wieder bei sich zu haben? Achtunddreißig Jahre sind eine sehr, sehr lange Zeit. Er hatte wirklich "keinen Menschen".
"Ach, du arme Kreatur! Bleib lieber so krank wie du bist! Nutze, das was dir noch übriggeblieben ist - deine Stimme, deinen Verstand, - hilf den Blinden so weit du kannst, die Welt ein bißchen heller zu sehen, schlepp dich zu den Lahmen und mach ihnen Mut, durchzuhalten bis ans Ende. Du kannst hier an diesem Ort der betrogenen Hoffnungen noch so viel Gutes ausrichten. Wer weiß, vielleicht bist du ja deswegen hier und hast es nur nicht gewußt." In Gedanken gehen mir solche Trostpflaster durch den Kopf. Wahrscheinlich deshalb, weil ich sie zu mir selbst schon so oft gesagt habe. Was soll ich auch sonst aus einer Situation machen,in der ich Schmerzen aushalten muß und sich lange Zeit nichts daran ändert? Aber, wenn auch ich zu mir selbst, und zu anderen Betroffenen ähnlich, rede - wenn der Menschensohn, der Heiland heißt, eingreift, können auch da Wunder geschehen, wo keiner mehr hofft und wartet.
"Stehe auf, nimm dein Bett und geh nach Hause!" hörte der Mann, der seit 38 Jahren krank war. Einfacher und präziser gehts wohl nicht. Und der Kranke? Gefiel ihm inzwischen sein geruhsames Liegen hier an diesem idyllischen Teich, im Kreise all seiner Mitpatienten, mit denen er nun schon so lange zusammen war? Hob er bedauernd die Hand und sagte:" Ach weißt du, lieber Mann, da waren schon eine Reihe Möchtegern-Heiler, die kommen und gehen, und ich liege immer noch hier. Bei den ersten hab ich noch vor Aufregung gefiebert - aber das ist lange her. Bemüh dich nicht - du blamierst dich bloß vor den anderen!" Nichts davon!
Wie schafft das einer, nach achtunddreißig Jahren Krankenlager diese Energie aufzubringen, so einem leicht dahingesagten Satz zu vertrauen, seine Glieder aufzuraffen, sein Bettzeug zusammenzufalten und auf eigenen, gesunden Beinen, ohne Gleichgewichtsstörungen, ohne rasenden Kopfschmerz, mit sicheren Schritten durch das Stadttor, hinein in das inzwischen völlig veränderte Großstadtgewühl Richtung des Tempels zu marschieren? Und nach all den Jahren fernab der Realität so nüchtern zu handeln, daß er den wichtigsten Gang nicht versäumt, nämlich sich von den Priestern als geheilt bestätigen zu lassen! Dieser Mann kriegte das geregelt!
Das sind für mich mehrere Wunder auf einmal! Genau das könnte ich auch gebrauchen! Ich schlage mich zwar erst einigen Monaten mit meinen Schmerzen herum - aber ich komme mir trotzdem ein bißchen so vor, wie dieser Mann vor seiner Heilung. Wen sollte ich schon rufen, wenn ich bettlägerig würde?
In Momenten wie diesen, wo ich mich fühle, als hingen zentnerschwere Gewichte an meinem Körper und auch an der Seele - da möchte ich auch schreien: "Ich habe keinen Menschen!" Nein, ich lebe nicht völlig allein und isoliert - ich habe eine Familie, eine recht große sogar. Aber,um in dem biblischen Bild zu bleiben - wen kann ich mit meinen Problemen belästigen? Wer ist da und hilft mir, genau in der Sekunde, wo ich es brauche? Meine Töchter? So gern sie es wohl tun würden - sie sind mit ihren eigenen Familien und ihren Berufen bis an den Rand ihrer Kräfte ausgelastet. Mein sonst so fürsorglicher Ehemann? Er braucht im Gegenteil meine Hilfe seit seinem Schlaganfall. Wer käme noch infrage? Die Nachbarn? Welche von den Frauen möchte ich schon in meine Schränke schauen lassen? Ja, Schwestern habe ich auch noch! Die eine wohnt 80 km weit weg, die anderen beiden mehr als 500 Kilometer! Und die Geschwister in unserer Gemeinde? Das käme eventuell infrage, wenn ich wirklich alleinstehend wäre. Solange jemand Familie hat, halten sich die Schwestern und Brüder taktvoll zurück. O Jesus - bitte, komm an meinem Teich vorbei und frag mich mal: Willst du gesund werden? Hilf mir, so zu reagieren wie dieser Mann am Teich Bethesda! Deinem Wort bedenkenlos vertrauen, das tun, was nötig ist, und jetzt schon froh darüber sein, daß - die Krankheit loswerden, bedeutet, den Alltag wieder anzupacken - zu arbeiten, zu planen, Zukunft zu gestalten. Ärzte gibt es im Gegensatz zum Teich Bethesda genug in unserer Stadt, an Medizinen mangelt es auch nicht, mehrere Telefone stehen in unserer Wohnung - ist es sehr unverschämt von mir, wenn ich trotzdem das Gefühl habe: Herr, ich habe keinen Menschen? Ich bitte dich, Herr, komm du und hilf mir auf! Sei du auch bei mir der wahre Mensch, der alles von Grund auf wieder in Ordnung bringt. Nicht nur die schmerzenden Glieder und den brummenden Schädel. Ich brauche dich als Menschen-Heiland neben mir, als sicheren Ort, wohin ich mit meinem ängstlichen Herzen laufen kann. Ich möchte fühlen, daß ich nicht allein bin, da ganz tief drinnen, wo auch der vertrauteste Mensch mir nicht hin folgen kann. Ich möchte ruhig durchatmen und wissen: Ich h a b e einen Menschen -ich habe sogar d e n Menschen, ich habe den Heil-and! -