Ergriffen und begriffen.
Ach nein, jetzt ist es schon wieder halb zehn.."Ich muß gehen, die Pause ist um!" "Nicht gehen, Mama, bitte hier bleiben, bei mir bleiben, bitte, bitte!" "Aber Minnalein, ich muß doch arbeiten, Du kannst ja mit Omi einkaufen gehen, oder im Garten spielen, es ist so schönes Wetter." "Draußen spielen? Bei dem Wind? Das Kind bleibt im Haus, es hat sowieso noch etwas Schnupfen - und allein auf die Straße kommt es schon gar nicht, das ist zu gefährlich! Dir ist das ja gleichgültig, mir aber nicht!"
Alles ist wie immer. Mit sanfter Gewalt löse ich die kleine Faust von meinem Rock und schiebe meine dreijährige Tochter hinter die Flurtüre zurück. Laufen möchte ich! Laufen,- weit, weit fort! Aber ich laufe doch nur durch den schmalen Innenhof, durch die Eisentür am Hintereingang zur Firma hinein. Der tiefe Brummton verkündet das Pausenende. Langsam, mit Stöhnen und Schnalzen, setzen sich die großen Druckmaschinen wieder in Bewegung.
Die Büroräume liegen im vorderen Teil des Gebäudes - einfache Quadrate mit Glaszwischenwänden und zweckmäßiger Möblierung. Zwischen meinem Schreibtisch und der Buchungsmaschine steht ein Drehstuhl. In der letzten Zeit macht sich diese Anordnung sehr gut, ich kann bequem mal vor dem einen oder dem anderen Arbeitstisch sitzen. Das sieht so aus, als hätte ich viel zu tun, aber in Wahrheit verteile ich die Erledigung der wenigen Buchungsbelege über den ganzen Tag. Wenn keiner hinsieht, ziehe ich ein Romanheftchen unter der Schreibmaschine hervor und lese ein paar Seiten weiter. Meistens kommen in den spannenden Krimis auch mutige, schöne Helden vor. So wandern meine Gedanken bald von der Romanhandlung fort zu eigenen Träumen und Sehnsüchten. Der Bleistift zieht wie von selbst Kurven und Linien über den Notizzettel. Es erscheint ein Strichmännchen in obszöner Haltung. Sofort reiße ich das Blatt in viele Fetzen.
Elf Uhr? Ich könnte aufstehen und den Waschraum aufsuchen. Das Chefbüro ist leer, vorn im Empfangsbüro schwatzen zwei Kollegen, zum Waschraum muß ich fünf Meter durch die frische Märzluft und hinter eine graugestrichene Holztür. Ein Meter im Quadrat, ohne Fenster, ein altmodisches WC. Die Fliesen auf
55
dem Boden sind so seltsam gemustert. Ich sehe Gestalten darin in verrenkten Haltungen. Träumen, sitzen, Wellen von Warten und Ungeduld - es zerrt und fordert, die Farben hinter meinen geschlossenen Augen werden immer bunter. In meinem Kopf dreht sich eine Kugel aus tausenden von Glassplittern, in denen das Licht hin- und herexplodiert - bis die Kugel ausrollt, irgendwo, grau und schal wie die Wände rings um mich her. Mit Widerwillen setze ich Fuß vor Fuß, schließe die Tür hinter mir und atme draußen erst einmal tief ein. Ich lege das eingeübte, nichtssagende Lächeln auf mein Gesicht.. Im Bürovorraum läuft das kalte Wasser aus dem blanken Hahn lange, lange über meine Hände. Das tut gut.
"Fräulein Jutta?" Der Chef! "Ja, bitte?" "Hier sind Korrekturfahnen, würden Sie die bitte gleich lesen? Es ist eilig!"Und wie gerne ich das möchte! Das ist der einzige Lichtblick an diesem Tag! Hoffentlich sind auch die Kurzgeschichten dabei, die wir jeden Monat einmal zu drucken haben für einen christlichen Verlag! Manche finde ich zwar kitschig und naiv, aber sie sind nett zu lesen, nicht so trocken wie Mietstreitigkeitsparagraphen. Da sind die gesuchten Erzählungen! Mal sehen, was die Leute wieder erlebt haben. Es sollen angeblich Tatsachen sein, diese Heilungsberichte und Glaubenserfahrungen. Ob das stimmt? Gibt es Menschen, die Wunder erleben? Männer und Frauen, die in bangen Stunden Gott begegnet sind, weil sie an diesen Jesus glauben? -- Ich muß mich konzentrieren, sonst übersehe ich die meisten Druckfehler.
Hoffentlich merken die Setzer nicht, daß die Blätter so wellig sind von den vielen Tropfen, die mir aus den Augen laufen! Was ist nur los? Die Stiche in der Herzgegend tun weh. Ach Gott, kann das denn sein? Kann einer zu dir kommen? Siehst du unsere Tränen? Fühlst du, was wir fühlen? Ich muß raus, hier raus, aber wohin? Nur nicht in Richtung Chefbüro schauen mit meinen verweinten Augen! Ja, dort hinein, in das alte Labor, gleich neben meinem "Affenstall". Dort sieht und hört mich keiner.
Gott -, Jesus, wenn du mich hörst, wenn du mich siehst, weil du wirklich lebst, dann hilf mir! Du weißt, warum ich mir im Spiegel nicht mehr ins Gesicht sehen kann. Wenn du eingreifst, dann glaube ich, daß du da bist und dann werde ich auf dein Wort hören."
Wie ich hier hänge! -Wie lange bin ich wohl schon hier drin? Schnell das Gesicht abgetrocknet. Die Haare sind unordentlich - ach, was
56
soll´s? Hoffentlich ist bald Mittag, arbeiten kann ich jetzt doch nicht richtig. Aber die Korrekturen müssen in den Betrieb! Nimm dich zusammen, Heulsuse, und lies!
Diesen Vormittag in meinem Leben werde ich nie vergessen! Die erste, die sich lautstark wunderte, als ich plötzlich anfing, die Bibel zu lesen, war meine Mutter. Sie verstand nicht, daß mir die im Konfirmandenunterricht so ausgezeichnet auswendig gelernten Texte nicht genügten und ich unbedingt so fanatisch werden wollte.Die Bibel faszinierte mich jedenfalls ab dieser Zeit mehr als alle Kinofilme, deren bunter Flimmer mir so wichtig gewesen war. Ich las mit Heißhunger. Sicher auch aus dem Grund, weil das erbetene Wunder postwendend bei mir eingetroffen war, aber ich erspürte je länger je mehr hinter den gedruckten Worten eine Fülle, in der mein unruhiger Geist alles finden konnte, was ich bisher nirgendwo bekommen hatte. Nichts ist der Bibel fremd. Sie begründet menschliches Verhalten von außen her und beurteilt glasklar die selbstgezimmerten Moralbilder der ganzen Welt.
An unzähligen Stellen dieses Buches fühlte ich mich persönlich erkannt - überführt und geliebt zugleich.
Von dieser einmaligen Medizin, die Leib und Seele heilen kann, mußte ich einfach reden - reden zuerst zu meiner Familie, -Mutter, Vater, Schwestern. Sie würden es doch mit Freuden hören! Aber - sie hielten meinen eifrigen Ernst für Sektiererei. Mir wurde klar, daß ein Schnitt mich von den engsten Angehörigen trennte. Ich bin heute noch dankbar, daß mich der kalte Wind aus dieser Richtung nicht abgehalten hat, viele Jahre Kindergottesdienst-Helferin zu sein. Wieviel habe ich in dieser Zeit gelernt, aus dem Buch der Bücher und auch im Zusammenspiel mit anderen Menschen, die Christus angehören. Der Spott der Arbeitskollegen legte sich bald. Sie ließen sich zwar nicht auf dieses Thema ein, aber mich auch in Ruhe. Im Stillen trauten sie mir dann doch wohl einiges an Einfühlungsvermögen mehr zu als anderen. Aus welchem Grund wohl sonst hätte man einige Wochen später eine junge Kollegin in mein Büro umquartiert, mit der sonst niemand etwas zu tun haben mochte, weil sie kleinwüchsig und nicht übermäßig intelligent war?
Seit dieser Zeit sind über dreißig Jahre vergangen. Mit dem Lernen aus der Bibel werde ich nie fertig werden, das ist auch gut so. 57
58