Ein leiser Wind bewegt die dünnen Vorhänge. Der Kranke berührt mit einem Finger den Arm des jungen Mannes, der an seinem Bett sitzt. Cyrus nimmt die Karaffe vom Tisch, füllt hellroten Wein in ein Glas und hält es seinem Onkel an den Mund. "Es ist genug," sagt der Alte leise, und Cyrus stellt das Glas wieder ab.
"Onkel, wenn es Dich anstrengt zu reden, dann komm ich morgen wieder!" "Nein, ich muß jetzt reden - morgen... vielleicht.." Seit drei Tagen hört Cyrus seinem Onkel zu, und er würde es sehr bedaueren, das Ende dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte zu verpaßen. Neben dem Glas, auf dem reich mit Schnitzwerk versehenen Tisch, liegen schon viele beschriebene Tontafeln und Papyrusstreifen. Cyrus ist sich sicher, daß der Bericht, den sein Onkel ihm gibt, stockend und immer wieder von Atemnot unterbrochen, zu wichtig ist, um nur für ihn bestimmt zu sein.
Zwei Jahre hat er seinem Onkel assistiert und seine astrologischen Aufzeichnungen verwaltet - so vieles möchte er noch von ihm lernen. Was soll werden, wenn er in kurzer Zeit allein ist mit all den jahrhundertealten Symbolen und Erkenntnissen, die der Onkel im Lauf der Gestirne gesehen und deren Erfüllung er bewiesen hat?
Das Gesicht in den Kissen aus besticktem Seidenstoff sieht müde aus. Aber in den Augen brennt eine große Unruhe.
"Cyrus, habe ich schon von dem Tag gesprochen, als die Planeten im Osten zusammenstanden? Als Jupiter und Saturn ihr Licht ineinanderwoben und stillstanden, und..." Er weiß, wovon sein Onkel spricht und kennt die Bedeutung dieser beiden Sterne genau. Jupiter ist das Licht der Könige und Saturn ist mit dem Schicksal des Volkes Israel fest verbunden.
"Ja, Onkel, ich hab es gelesen in Deinen Aufzeichnungen, die Du vor fünfunddreißig Jahren gemacht hast. Du hast alles minutiös festgehalten und so geordnet, daß es sogar ich verstehen kann. Sag: ist so eine Konjunktion wirklich nur einmal in Deinem Leben vorgekommen?"
"In meinen Leben..., ja. Die Sterne haben ihren Lauf, sie sind älter und weiser als wir, weil es die Götter sind, die sich der Sterne bedienen, um zu uns zu reden. Solange es Menschen gibt, haben sie die Sterne beobachtet und ihr Wissen den nächsten Generationen weitergegeben. Aber nur wenige Astronomen werden so beschenkt wie ich vor vielen Jahren, nur wenige -"
Cyrus nickt. Es gab damals Sternkundige, die mit seinem Onkel gereist sind, weil auch sie diese wundersame Planetenstellung zu deuten gewußt hatten. Ihre Namen waren irgendwo aufgezeichnet, sogar die Art der Geschenke, die sie dem angekündigten Herrschersohn mitbrachten.
"Du mußt wissen," der Onkel spricht leise, aber konzentriert, "es ist noch nicht solange her, daß unser Volk und das kleine Volk der Israeliten sehr enge Beziehungen hatten." Cyrus lächelt, als er begreift, daß sein Onkel trotz der schweren Krankheit noch ironisch sein kann. Schließlich hat er mit ihm zusammen oft über den alten Geschichtstafeln gesessen und sich abgemüht, all die Namen der Herrscher auswendig zu lernen, die aus dem alten Mesopotamien Richtung Mittelmeer zogen, um die fruchtbare Jordanebene ihrem Reich einzuverleiben. Bruderkriege, Vergeltungshinrichtungen, Verräter im eigenen Volk und in den Reihen der israelitischen Stämme - erst die Heere der neuen Kaiser aus Rom hatte diesem Hin- und Her vor einigen Jahrzehnten ein Ende gemacht. Seitdem war aber auch das Gebiet am unteren Euphrat den Römern tributpflichtig. Cyrus kannte es nicht anders, sein Onkel aber fand sich nur schwer damit ab. Ob er sich wohl auch aus diesem Grunde in seinen jungen Jahren entschlossen hatte, die beschwerliche Reise nach Jerusalem anzutreten?
Auch ein kleines Volk wie die Israeliten konnte eventuell als militärischer Beistand sehr von Nutzen sein, wenn es von den Göttern in solch hohem Maß bevorzugt wurde.
Viele Jahrhunderte lang hatte es nicht so ausgesehen, als würden sich diese Stammesverbände einmal zu einer Weltmacht entwickeln, schließlich waren sie öfter unter fremde Besatzung geraten oder in alle Welt verstreut worden, als daß sie ein stabiles Staatssystem bildeten. Aber - die Botschaft der Sterne war eindeutig gewesen, also hatten die Götter mit diesem unverwüstlichen Volk noch etwas Besonders vor.
Nur wann? Das fragte sich Cyrus - und das hatte sich wohl auch sein gelehrter Onkel spätestens seit dem Tage gefragt, als er nach Monaten anstrengender Reise aus Jerusalem wieder zu seinen astrologischen Berechnungen zurückkehrte.
"Was ist aus dem neugeborenen König geworden?" Lange blieb es still in dem schon dämmrigen Raum. Die runzlige Hand auf der Bettdecke zittert leicht.
"Dreißig Jahre sind vergangen," flüstert der Onkel, "dreißig Jahre -oder mehr?" Die Sterne - die Sterne haben uns genarrt - die Götter lachen über uns. Cyrus! Wirf alle Tafeln fort, zerreiß alle Papyrus! Es ist Blendwerk, Teufelswerk - Lüge -" Ein trockener Husten schüttelt den Körper, er dreht sich zur Seite und atmet schwer. "Geh jetzt, geh - ich will nicht mehr..!"
Cyrus wagt nicht, seinen Onkel zu berühren, er geht still hinaus. Über ihm flammen tausende goldene Lichter auf dem dunkelblauen Samt der Nacht, sie bilden Figuren, sie erzählen ihm Geschichten, sie bieten ihm Weisung - ist wirklich alles Lüge, alles Täuschung? Morgen wird er weiter in den Aufzeichnungen des Onkels lesen. Vielleicht findet er dort den Namen eines der Astronomen wieder, die lange vor seiner Zeit den Spuren des großen Sterns, der Königskonjunktion, gefolgt sind.