Kap. 4
Im Lindenhain
Inzwischen herrschte im Lindenhain reges Treiben. Auf der kleinen Lichtung, über die jetzt der Vollmond sein silbernes Licht ergoß, übten die Töchter der Elfenkönigin mit ihren Freundinnen und Gespielinnen die neuesten Tanzschritte, die ihnen Gott Pan beim letzten Vollmondfest gezeigt hatte. Heute wollten sie wieder tanzen, sich nach den lieblichen Klängen der Hirtenflöte im Reigen wiegen und sich von der aus Ewigkeiten erwachsenen Zaubermusik, die nur Gott Pan richtig wiederzugeben verstand, wie auf sanften Flügeln hinweg - und wieder herbeischweben lassen. Heute - am Blütenfest! Tausende von Lindenblüten hatten tagsüber im Sonnenschein ihren Duft verströmt, nun lag er süß und prickelnd wie Champagner über der Waldlichtung. Wen wundert es da, daß die kleinen Elfen nicht stillsitzen konnten. Wie wunderschön waren sie anzusehen! Zierliche Kränzchen aus Lindenblüten schmückten ihr silberglänzendes Haar. In jeder Blüte schimmerte als besonderer Schmuck ein Tautropfen gleich einem kostbaren Diamanten. Schleiergewänder in den zartesten Regenbogenfarben umhüllten die zierlichen Gestalten, und sie boten im weichen Mondenschein einen Anblick von solch wunderbarer Schönheit, wie es sich kein Mensch vorstellen kann.
Wo mochte nur der Hirtengott bleiben? So lange hatten sie noch nie auf ihn warten müssen. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie hielten inne im Tanz und lauschten in die Nacht hinaus. -
Da, endlich hörten sie ihn kommen; unverkennbar sein Schritt, nur etwas langsamer als sonst, so, als trüge er eine Last mit sich. Und dann sahen sie ihn mit Elfi in seinen Armen!
Die Elfenkönigin erschrak. Ein Menschenkind in ihrem Reich! Das bedeutete nichts Gutes, und plötzlich erfaßte sie
eine große Angst. Hatte man ihr nicht geweissagt, durch die Liebe zu einem Menschenkind würde sie ihre eigenen Töchter verlieren, ihre süßen Lieblinge, ihr ganzes Glück? Das durfte nicht sein! Die Kleine mußte wieder weg. In abwehrender Haltung schritt die Königin dem Hirtengott entgegen. Doch der schien dies nicht wahrnehmen zu wollen. Sanft ließ er Elfi, die noch immer bewußtlos war, ins weiche Moos gleiten. Dann wandte er sich an die Elfenkönigin. Hätte er den Hilferuf des armen Geschöpfes einfach überhören und es in dem gräßlichen Netz der Spinnen liegen lassen sollen, damit dieses widerwärtige Volk die Kleine hätte umbringen können? Egal, ob Mensch oder nicht, so etwas tut ein Gott nicht.
Und hätte sie, die Elfenkönigin, an seiner Stelle anders gehandelt? Sie, die er nur als gütig und freundlich kenne, könne einem Wesen in höchster Not die Hilfe versagen? Wäre es so, dann wolle er nichts mehr mit ihnen allen zu tun haben. Zum Tanz aufspielen würde er ihnen nie mehr!
Die Elfenkönigin hatte die letzten Worte des Hirtengottes gar nicht mehr wahrgenommen. Das schreckliche Schicksal des jungen Mädchens rief solch tiefes Mitleid und ein so großes Bedürfnis zu helfen in ihr wach, daß sie ihm sanft über das silberblonde Haar strich. Wie schön das junge Menschenkind war! Glich es nicht fast aufs Haar genau ihren eigenen Töchtern, nur daß es etwas größer war als sie. Und ging nicht ein Hauch von Reinheit und Unschuld von dem jungen Menschenkind aus? Von ihm konnte nichts Böses kommen. Und plötzlich fühlte sie eine übergroße Liebe zu dem jungen Mädchen in ihrem Herzen aufsteigen, die gleiche Liebe, die sie nur für ihre eigenen Töchter empfand. Als diese auch noch inniglich baten, das
schöne Mädchen bei sich behalten und es mit ihrer Hilfe gesundpflegen zu dürfen, tat sie nichts lieber, als diese Bitte zu erfüllen. An die Worte der alten Weissagung dachte sie nicht mehr. Sie waren untergetaucht in dem weiten Meer des Vergessens, woher sie niemand mehr zurückholen konnte.
Aber die alte Prophezeiung hatte schon begonnen, ihren Lauf zu nehmen.
Kap. 5
Vergebliches Suchen und das Ende des Spinnenreichs
In Schloß Lindeneck herrschte große Aufregung, als Elfis Stute allein und schweißüberströmt, wie von Furien gejagt und mit bebenden Flanken, bei den Stallungen ankam. Der Schloßherr ließ die ganze Umgebung bis weit hinein ins Land nach Elfi absuchen. Er selbst durchstreifte mit Tassilo nach dessen Ankunft und mit einem großen Aufgebot seiner Leute den Finsterwald. Aber von Elfi fand man nirgendwo eine Spur. Auch wies nichts darauf hin, daß sie überhaupt in den Finsterwald gekommen sein konnte. Er wirkte ausgestorben und leer. Nur viele tote Spinnen lagen auf dem Waldboden und den Wegen. Manche schienen sich sogar in den eigenen Netzen, von denen zwei total zerrissen waren, verfangen zu haben.
Was die verzweifelt Suchenden nicht ahnen konnten, war hier geschehen: Als die Spinnen das Netz leer fanden, in dem sie Elfi gefangen hatten, beschuldigten sie sich gegenseitig, ihr zur Flucht verholfen zu haben. In blindem Haß und Zorn gingen sie aufeinander los und bekämpften sich, so daß an dem Hochzeitstag ihres Königs nicht nur er starb, sondern auch sein ganzes Volk zugrunde ging. Der Fluch des Hirtengottes hatte sich erfüllt.
Monate gingen ins Land. Auf Schloß Lindeneck herrschte große Trauer. Alles Suchen und alle Nachforschungen nach der jungen Komtess waren erfolglos geblieben. Und doch mochte so recht niemand glauben, daß Elfi nicht mehr am Leben sein könnte, vor allem Tassilo nicht. Mit wieviel Freude und Erwartung war er nach Lindeneck gekommen! Endlich sollte sein größter Wunsch, seine süße Braut, die er ja nur von ihrem Medaillon her kannte, in Wirklichkeit sehen und sprechen zu können, in Erfüllung gehen! Welch süße Wonne ließ sein Herz erbeben, wenn er daran dachte, sie in allerkürzester Zeit als sein geliebtes Weib in die Arme schließen zu können. Und dann
diese grausame Enthüllung bei seiner Ankunft! Er war der Verzweiflung nahe. Er mußte Elfi finden! Sie konnte doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein! Nach der vergeblichen Suche zusammen mit seinem Schwiegervater machte er sich noch einmal allein auf den Weg und durchstreifte mit seinem Rotfuchs das ganze Land. Es gab keinen Ort und kein Haus, in dem er nicht nach einem Lebenszeichen von Elfi oder auch nur nach einem Anhaltspunkt geforscht hätte. Aber niemand hatte die Komtess gesehen.
Und doch sagte ihm ein inneres Gefühl, daß sie noch am Leben sein müsse, vielleicht sogar nicht so weit von Lindeneck entfernt. Und je mehr er darüber nachdachte, umso mehr wollte ihm der Gedankezur Gewißheit werden. Es gab überhaupt keine andere Möglichkeit! Aber warum hielt sich Elfi versteckt? Er grübelte und grübelte, fand aber keine Lösung. Kurz entschlossen machte er kehrt und ritt wieder zurück, Elfis Heimat zu.

Kap. 6
Im Elfenreich
Es war ein lauer Juniabend, an dem Tassilo den Lindenhain erreichte. Im Schein der untergehenden Sonne sah er Schloß Lindeneck vor sich liegen. Die letzten Sonnenstrahlen huschten über Elfis Fenster hinweg, dann lag das Haus im Dämmerschein. Aber es schien Tassilo, als wären die tanzenden Sonnenstrahlen von Elfis Fenster weitergeeilt zu ihm hinauf in den Lindenhain und hätten, bevor sie endgültig in den Schoß ihrer ewigen, wärme- und lichtspendenden Mutter zurückkehrten, ganz kurz noch vor einer uralten, efeuumrankten Linde haltgemacht. Und immer mehr ermächtigte sich Tassilo das Gefühl, daß seine Elfi nur hier und nirgendwo sonst zu finden sein müsse.
Aber wo? Er stieg vom Pferd und ließ sich am Fuß der alten Linde ins weiche Moos nieder. Er grübelte und grübelte, und unbewußt berührte seine Hand die kleine, goldene Harfe, die er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen! Die Harfe! An sie hatte er in seiner Trauer und Verzweiflung über Elfis Verschwinden ja überhaupt nicht mehr gedacht. Und dabei war vielleicht gerade sie es, die ihm helfen konnte, Elfi zu finden.
Im fielen die Worte der guten Fee ein, die seine Mutter ihm so oft wiederholt hatte: "Gleichzeitig mit der Liebe zur Musik lege ich dir diese goldene Harfe in die Wiege. Laß sie dein bester Freund werden. Dann wird sie Freude und Leid mit dir teilen und dir einmal aus tiefster Verzweiflung zu höchstem Glück verhelfen."
Vorsichtig löste er sie von der goldenen Kette und begann zu spielen, erst leise und verhalten, aber dann immer stärker und eindringlicher. Und die Harfe sang von seiner tiefen Liebe zu Elfi, jauchzte auf in der Freude der Erwartung, mit der er nach Lindeneck gekommen war und gab in tiefen
Klagetönen all die Angst und Verzweiflung wieder, als er von Elfis Verschwinden erfuhr. Sie verströmte mit ihren Klängen all die Tränen, die er aus tiefster Herzensnot geweint hatte, weil er Elfi nirgendwo hatte finden können.
Dabei rief Tassilo mit der ganzen Kraft seines Herzens Elfis Namen, wieder und immer wieder, und die Töne der Harfe drangen bis in die entferntesten Winkel des Lindenhaines, ja, sogar bis unter die Erde. Mit einem weichen sehnsuchtsvollen Ton verklang der Harfe Spiel.Erschöpft ließ Tassilo sie niedergleiten und lehnte sich an das weiche Efeugerank des Lindenbaumes. Er schloß die Augen und lauschte. Nichts regte sich im Lindenhain, der in weiches Mondlicht getaucht war. Man hörte keinen Laut. Es war tiefe, tiefe Stille. Tränen quollen Tassilo aus den Augen. Sollte ihn sein Gefühl so getrogen haben? Eine Verzweiflung wie noch nie in seinem Leben erfaßte sein Herz und ließ es sich in tiefem Weh zusammenkrampfen. -
Da hörte er neben sich ein Geräusch, als ob die Blätter der dichten Efeuranke sich bewegen würden. Ein feines Stimmchen rief seinen Namen. Vor ihm stand ein zierliches, kleines Wesen, weniger als einen Meter groß,aber von solch einer unirdischen Schönheit und solchem Liebreiz, daß ihm der Herzschlag stockte. Das Mondlicht ließ des feine, helle Haar silbern erglänzen und zauberte auf das Schleiergewand, das die kleine Gestalt lose umhüllte, silberne Blüten und Blumen. Tassilo hörte sie weiter sprechen:" Meine Mutter, die Elfenkönigin, bittet dich, ihr deine Aufwartung zu machen. Komm mit!"
Wie im Traum erhob sich Tassilo aus dem Moos und
folgte dem Elflein um die dicke, alte Linde herum. Das dichte Efeugerank war hier auseinandergeschoben und gab einen Einlaß frei.
Der Stamm der alten Linde war hohl, und Tassilo sah vor sich eine mit weichem, silbergrauen Moos ausgelegte Treppe, die hinunter führte. Tausende von Glühwürmchen spendeten mit ihren Laternchen ein weiches Licht, so daß er der kleinen Elfe leicht folgen konnte. Hinter den beiden wurde der Eingang von unsichtbarer Hand wieder verschlossen, die Efeuranke preßte sich wieder fest an den Lindenstamm. Niemand hätte hier einen Eingang vermuten, geschweige denn finden können.
Die Treppe führte hinab zu einem wunderschönen Garten, in dem herrliche Springbrunnen munter plätscherten, die lieblichsten Blumen dufteten und kleine filigrane Bänke aus gediegenem Silber zum Verweilen einluden. Inmitten des Gartens lag, eingefaßt von weißen und rosaroten Moosröschen, der Tanzplatz der Elfen, den sie benutzten, wenn die Jahreszeiten das Tanzen auf der kleinen Lichtung im Lindenhain nicht mehr zuließen. Grünes, weißes und silbergraues Moos war auf einer kleinen Anhöhe zu Intarsienmotiven zusammengefügt und ergab ein Bild vollkommenster Schönheit. Alles aber wurde überstrahlt von dem Palast der Elfenkönigin, der aus reinem Bergkristall erbaut war. Mit blauen Saphiren besetzte Säulen zierten die Empfangshalle, deren Fußboden aus kunstvoll geschliffenen Smaragden bestand, über die weiche Matten aus grünem Moos gebreitet waren. Die kuppelartig gearbeitete Decke aber bestand aus einem herrlich leuchtenden Aquamarin, so daß man hätte meinen können, an einem herrlichen Sommertag zum blauen Himmel aufzuschauen.