Der letzte Schrott.
"Mutter, was ziehe ich denn zur Geburtstagsfeier bei Gaby an?" Die Mutter sieht
von ihrem Strickzeug hoch. "Du hast doch noch das hübsche Karokleid, oder
paßt dir das auch nicht mehr?" Zur Demonstration holt Karin das Kleid aus
dem Schrank und hält es sich vor. Die Mutter seufzt. "Na ja, so kannst du
es wirklich nicht mehr tragen!"
Als Karin am Nachmittag vom Sportunterricht nach Hause kommt, hängt ein
Super-Kleid auf dem Bügel. Ist das nicht ihr kariertes Lieblingskleid?
Aber wie hat es sich verändert! Vom Saum zum Kragen geht ein schimmernder
Samtstreifen, durch die Ärmel zieht sich eine Samtrüsche und endet in
einem vornehmen, schmalen Bund. Karin streift ihre Sportsachen ab und
schlüpft in das Kleid. "Das ist ja viel schöner als eins aus neuem
Stoff!" freut sie sich und umarmt ihre Mutter ganz doll. Die Mutter
lächelt. "Weißt du, Kind, mit neuem Stoff kann jeder arbeiten, aber
aus alten Sachen etwas Schickes machen, das ist die Kunst!"
Die kleine Karin bin ich gewesen. Mir fiel der Ausspruch meiner Mutter wieder
ein, als ich mit einer Bekannten sprach. Ich hörte ihr zu, wie sie sagte:
"Neulich bin ich mal mitgegangen. Frau Bärland hatte mich eingeladen, es
gab in der hiesigen Kirchengemeinde eine Feier. Eigentlich bin ich nicht
für diese Gefühlsduselei, aber an dem Nachmittag fiel mir die Decke
auf den Kopf und ich bin dagewesen. Hinterher hab ich mich grün
geärgert, es war nämlich genauso, wie ich geahnt hatte. Wer saß
da zusammen? Die kleine Bucklige, die bei Müllers im Souterrain wohnt und
der blinde Bruder von Frau Kampmann, dann die beiden alten Jungfern vom Kiosk
aus der Mehlstraße und natürlich der alte Seeberg. Der wohnt bei uns
im ersten Stock und hustet und krakeelt den ganzen Tag vor sich hin!"
Ich fragte so harmlos wie möglich: "Waren denn sonst keine Leute da?"
"Doch, der Saal war voll. Aber von den anderen kannte ich nur die Angerwalds,
und die kümmerten sich dauernd nur um den Blinden. Die haben nur mal kurz
gegrüßt, sonst nichts. Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr hin,
das ist ja bloß der letzte Schrott, mit dem sonst keiner was anfangen
kann!"
"Ich war an dem Tag leider verhindert," erklärte ich ihr, "ich wäre
sonst gerne auch gekommen."
Meine Bekannte sah mich an, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich sie
verulken wollte. Das Thema wurde ihr anscheinend peinlich, sie verabschiedete
sich.
Mir liefen ihre Worte nach: Da sammelt sich ja nur der letzte Schrott! Stimmte
das? Finden sich in den Gemeinden und Gruppen, die sich Christen nennen,
wirklich nur die Außenseiter? Menschen, deren äußere Gestalt
sie zu Außenseitern macht und solche, deren Lebensweg am Rande der
Gesellschaft entlanggelaufen ist? Auf der Feier waren meiner Bekannten nur
einige Personen begegnet. Hätte sie alle die gesehen, die sich seit Jahren
in unseren Bibelstunden und Gottesdiensten einfinden, wäre sie sicher noch
schockierter gewesen. Es waren Menschen darunter, die heute entweder im
Gefängnis oder in Nervenheilanstalten säßen, wenn ihr Lebensweg
nach menschlicher Logik weitergegangen wäre.
Zwei von ihnen wären sicher schon lange tot, hätten sie nicht im
rechten Moment von dem großen Friedensangebot Gottes gehört. Es ist
wahr: man sieht ihnen noch an, aus welchem Milieu sie kamen, aber was
tut´s? Kein neugeborenes Kind kann am zweiten Tag bereits laufen, sprechen
und mit Messer und Gabel essen.
Und die kleine Bucklige? Der Blinde? Der sabbernde Alte? Sie haben an ihrem
Ausgegrenztsein keine Schuld. Die Schuld trägt die gesichtslose Masse,
durch die sie täglich wandern und von der sie im großen und ganzen
wie Luft behandelt werden.
Wo finden sie Anerkennung, wo werden sie angenommen, wenn nicht in den Reihen
derer, die sich -ebenso wie die Behinderten- nur aus lauter Gnade angenommen
wissen und nicht wegen ihrer schönen blauen Augen.
Die Gefühle meiner Bekannten sind mir nicht fremd. Ich habe die Szene
nicht vergessen, die mich selbst einmal sehr unangehm berührte. Eine
Mädchengruppe der Kirchengemeinde besuchte ein Heim für behinderte
Jugendliche und verbrachte dort den Tag. O, wie konnte sich ein intelligentes
Mädchen mit einer Filmstarfigur nur so blamieren und einem schwammigen,
weiblichen Etwas mit schielenden Augen einen Löffel Suppe nach dem anderen
einflößen? Es hat viele Jahre gedauert, bis ich diese kranken
Menschen auch als von Gott geliebt akzeptieren konnte.
Ganz allmählich - und ohne daß ich es recht erklären
könnte - hat sich meine Abscheu vor solchen Diensten in eine tiefe Freude
daran verwandelt.
Auf dieser - im wahrsten Sinn des Wortes ver-rückten Erde gibt es
Abnormitäten vielfältigster Art. Gott verhindert sie nicht. Sie
machen den Zustand der Welt überdeutlich:
alles ist eingebunden, eingeschlossen in den Tod.
Heute wird zwar auf manche Weise versucht, uns das Unordentliche, das
Scheußliche als liebenswert darzustellen, als eine von vielen Varianten
des Lebens. Aber ich behaupte einfach einmal, daß es jeden Menschen im
Innersten davor graust, mit Menschen und Dingen in Kontakt zu kommen, die
"anders" sind. Es scheint in jedem Unterbewußtsein noch ein Hauch
Erinnerung zu existieren an die vollkommene Gestalt, an ein vollkommenes
Verhalten, so wie es am Anfang der Schöpfung war und von Gott für gut
befunden wurde.
Wie ist aber das Vollkommene, wie sieht es aus? Leider halten sich die meisten
Menschen, einschließlich meiner Bekannten, selbst dafür. Wie
schnell sie auch zu denen gehören können, die von anderen gemieden
werden, mußte neulich ein Arbeitskollege unseres Sohnes erfahren. Er
wurde durch einen Motorradunfall vom kraftprotzenden Sportler zum
querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer.
Es wird wohl schwer sein, meine Bekannte noch einmal zu bewegen, eins unserer
Gemeindefeste zu besuchen. Vielleicht kann ich ihr trotzdem die Geschichte mit
dem umgearbeiteten Kinderkleid erzählen und darauf kommen, daß es
ein Beispiel sein soll für die Geduld Gottes, aus völlig
unbrauchbaren Teilen etwas Herrliches zu schaffen.
Ich bin jedenfalls froh, daß zu unserer Gemeinde Menschen mit Defekten
gehören. Wo die sogenannten Normalen begriffen haben, daß sie sich
ebenfalls in Arbeit befinden bei Gott, sind ihnen auch mißgestaltete
Körper und kranke sowie selbstverschuldete seelische Verstümmelungen
nichts Ungewöhnliches. Welches Meisterwerk am Ende aus all dem Schrott
entstanden sein wird, ist ein großes, herrliches Geheimnis.