B i o t o p
Hinter Kahlbergs Gartenzaun beginnen die Gemüsebeete von Frau Märzer. "Meinst Du, ich soll mir mal das große Lineal von Frau Märzer borgen?" sagt Herr Kahlberg."Gegen deren Gardekompagnie von Salatpflanzen sehen unsere aus wie ne Gammeltruppe." Frau Kahlberg kennt das lustige Blitzen im Gesicht ihres Mannes, aber sie hält sich bei ihrem leisen Lachen die Hand vor den Mund. Mit dem Daumen weist sie hinter sich. Beide drehen sich von ihrem gemütlichen Platz am Gartentisch um und rufen freundlich: "Guten Tag, Frau Märzer!" über den Zaun. Dann schauen sie lieber wieder vor sich und genießen den Rest ihres Sahnetortenstücks, sonst hätte Frau Märzer vielleicht doch bemerkt, daß sich Kahlbergs das Lachen kaum verkneifen können.
Frau Märzer geht auf die Knie und zupft zwischen dem Salat das Unkraut aus. Sie hätte einen Jäter nehmen können, aber sie legt die Brennesselpflänzchen und den Spitzwegerich sorgfältig auf den Rasen. Ein unwissender Zuschauer wäre sich nicht sicher, ob es ihr mehr um das Wohl ihres Salates oder um das der Unkräuter geht.
Kahlbergs kennen den Grund. Er heißt Putzi,- eigentlich Peter. Er ist der zwanzigjährige Sohn von Frau Märzer. Vor zwei Jahren bekam er den Öko-Tick. In der vorigen Gartensaison hat er allen Ernstes versucht, seine Mutter am Unkrautjäten zu hindern. Dann haben sie einen Kompromiß geschlossen: Mutter Märzer hält ihre Gemüsebeete und das Rasenstück bis zum Kiesweg so penibel in Ordnung wie ihre Wohnung - und Putzi Märzer hat auf der anderen Grundstücksseite zur Straße hin seine Ökowiese. Dazu kontrolliert er die ausgesiedelten Wildpflanzen aus den Beeten seiner Mutter auf ihre Verwendbarkeit. Er hat seiner Mutter schon mehrmals erklärt, wie die biologische Ordnung seiner Pflanzenfamilie funktioniert, aber für sie und die Augen der Nachbarn sieht es nur aus wie Kraut und Rüben.
Frau Märzer arbeitet sehr gerne im Garten, aber schon öfter sahen die Kahlbergs sie doch auf den Hackenstiel gestützt dastehen und zum Startplatz der Löwenzahn-Geschwader eine Faust ballen. Trotzdem bringt sie es wohl nicht übers Herz, Unkrautvertilger zu verwenden.
15
Frau Kahlberg meint nachdenklich: "Ich sag dir was, Erich. Längere Zeit kam ich auch nicht damit klar, wie das mit den intakten Biotopen, dem Unkraut und den akkuraten Gemüsebeeten richtig zusammenhängt." Herr Kahlberg hat nicht alles erfaßt, was im Kopf seiner Frau vor sich geht, aber es scheint interessant zu sein. Meist schafft er es, in ihren Gesprächen die Gedanken seiner Frau in ein brauchbares Schema zu ordnen.
"Meinst du die Biotop-Wiese von Putzi Märzer?" "Ja, zum Beispiel. Da wachsen nun Pflanzen vieler Art, es krabbeln Insekten, fliegen Schmetterlinge - neulich sah ich einen Igel im Reisighaufen - es tut wirklich gut, das zu beobachten. Ich sehe, wie die Vögel da einen gedeckten Tisch haben mit Käfern, Larven und Würmern. Würd´mich nicht wundern, wenn der Habicht da oben entdeckt hat, wieviel Abendessens-Möglichkeiten hier herumschwirren. Alles ist in einer Ordnung, die sich gegenseitig ergänzt und sich erhält, ohne Menschenzutun."
Herr Kahlberg holt Luft. "Na klar, Liebes, diese Ordnung hält sich elbst ganz gut, aber wenn wir sie sich selbst überlassen, tötet sie uns auf ihre Weise wie ein unbarmherziger Feind. Das Paradies, in dem jede Pflanze und jedes Tier dem Menschen untergeordnet war, gibt es nun mal nicht mehr. Wir müssen gegen Dornen und Disteln kämpfen und das mit aller Kraft, bis uns der Schweiß runterläuft. Schade bloß, daß wir von den kräftigen, rücksichtlosen Pflanzen nur wenige für uns verwenden können. Wir ernähren uns von denen, die sich ohne unsere Hilfe gegen die ungenießbaren nicht durchsetzen können."
Frau Kahlberg kicherte. "Ich glaube, das wird unseren Ökofan von nebenan auch noch ins Grübeln bringen, wenn sich erst das Bauamt bei ihm meldet, weil seine Löwenzähne schon kräftig an den Betonplatten vom Gehsteig nagen!"
Herr Kahlberg möchte lieber wieder auf die geistliche Ebene zurückkommen, weil ihm immer noch nicht klar ist, was seiner Frau angesichts dieser Gartenprobleme beim Lesen der Bibel aufgegangen ist.
"Ach so, ja, jetzt fällt´s mir wieder ein! Siehst du, ich konnte lange nicht verstehen, warum Jesus damals auf dem See Genezareth den Sturm bedroht hat. Die rasenden Luftströme wurden ruhig, das Schiff war außer Gefahr. Erst dachte ich: Warum schimpft Jesus mit dem Sturm? Gott hat doch in diesem Moment den Sturm gemacht,
16
genauso wie er jeden Regen, jede Kältewelle und alles Wetter in dem Moment erschafft, wo es über die Erde geht. Wieso also ist Jesus anderer Meinung? Er handelt doch nie gegen den Willen seines Vaters.
Im Grunde ist es aber ganz einfach. Jesus hat nur das getan, wozu wir auf unserem kleinen Stück Garten auch gezwungen sind: er hat die menschenfeindlichen Auswirkungen der gefallenen Schöpfung in ihre Grenzen verwiesen. Das nachparadiesische System ist zwar von Gott in Kraft gesetzt worden, aber diese Notordnung steht dem Menschen entgegen, - wie du gesagt hast- er muß gegen sie ankämpfen um zu überleben.
Mit unserer Kraft können wir vieles selbst in Grenzen halten und zu unserem Vorteil ausnutzen - wie Wind, Wärme, Energie aus Wasser und Sonne - aber wie ohnmächtig sind wir in Wahrheit gegen die Naturgewalten. Gott hat diese Ordnung geschaffen für die Zeit zwischen dem Ungehorsam der ersten Menschen und der Wiederkunft seines Sohnes als Herrscher. Und wenn Jesus den Sturm bedroht ist das für ihn nichts Außergewöhnliches. So selbstverständlich, wie wir ungestüme Flußläufe in ein reguliertes Bett zwingen, kann er eben weit über unsere Macht hinaus den Naturkräften befehlen."
Herr Kahlberg hat bei der langen Rede seiner Frau seinen Kaffee kaltgerührt. "Na, dann will ich mal lieber erst gar nicht anfangen, über die Heilwirkungen von giftigen Pflanzen zu reden, sonst sind wir morgen noch an dem Thema."
Frau Kahlberg streckt ihm die Zungenspitze heraus, sie ist nicht zu stoppen. "Bis ins Letzte kann ich dir die komplizierte Ordnung auch nicht erklären, sonst hätte ich ja unserm Herrn über die Schulter gesehen und könnte dir sagen, was er sich bei all dem gedacht hat. So vermessen will ich nicht sein. Mir hilft es jedenfalls, wenn ich denke: diese Ordnung, in der viele Tiere nur leben können, wenn sie andere Tiere töten und fressen - vom Menschen ganz zu schweigen - diese Ordnung ist eben nicht die ursprüngliche Schöpfung, mit der Gott sehr zufrieden war. Der Tod gehörte am Anfang nicht zum Leben dazu. Und ich freu mich darüber, daß Gott für die Zeit nach dieser schmerzhaften Erdperiode schon einen Plan für die neue Schöpfung hat, wo der Tod endgültig ausgeschlossen ist.
Wenn ich mir alles mal im Kopf zurechtgelegt habe, passe ich Putzi Märzer einmal ab und versuche, es ihm zu erklären.
17
Vielleicht genießt er ja danach den frischen, saftigen Salat aus den Beeten seiner Mutter mit mehr Dankbarkeit, wer weiß?
Herr und Frau Kahlberg trinken den Rest ihres kaltgewordenen Kaffees aus und winken beim Gehen freundlich zu Frau Märzer hinüber.
18