Begegnung
Nur noch einen tiefen Atemzug! Dann schließe ich ganz bestimmt das Fenster und der Tag wird für mich zuende sein. Oder sollte ich doch...? Es ist ja erst 22.00 Uhr. So weich ist die Augustnachtluft! Als könnte ich sie trinken. Ich werde noch den Feldweg entlang über den Hügel und wieder zurück gehen. Meine Füße plädieren zwar ziemlich gefühlvoll für eine waagerechte Unterbringung, aber sie sind Kummer gewöhnt.
"Ich gehe noch ein Stück spazieren!" melde ich mich im Wohnzimmer ab.
Sterne sind keine zu sehen, nur dieses pflaumenweiche Blau überall. Und davor, wie schwarze Brüsseler Spitze, der Wald und die Reihen der Obstbäume.
Bis zur Straßenbiegung bei den Maisfeldern bin ich allein auf der Welt. Der Weizen ist schon geschnitten, so habe ich freie Sicht bis zum westlichen Horizont. Ein tiefrosa Streifen zwische Blau und Schwarz verrät noch den Weg der Sonne.
Vom anderen Ende der Straße her kommt mir eine Gestalt entgegen. Jetzt geht sie durch den Lichtkreis einer Laterne, und ich erkenne sie: Dorchen. Dorchen Klebusch. Sie trägt einen kleinen Eimer. Er schlägt ihr bei jedem Schritt gegen die Wade. Es sieht so aus, als hätte sie es eilig. Ob sie mich anspricht? Ob sie noch weiß, wer ich bin? Wir sehen uns nur selten. Als ihr Vater noch lebte, bestellte er ab und zu Getränke bei uns. Wie lange ist das her? Zehn Jahre? Nein, es müssen schon fünfzehn Jahre sein. Ob Dorchen immer noch diese Schauergeschichten erzählt? In ihrem Kopf ging schon damals vieles durcheinander.
"Guten Abend, Fräulein Klebusch!" sage ich laut und lächle sie an.
"N´Abend!" anmtwortet sie mit fester Stimme. Ich
staune. Sollte sie wieder normal sein? Sie hebt den Eimer. "Ich muß zur Post. Ich habe zwei Briefe geschrieben. Einen an meine Kinder in Afrika und einen an den Präsidenten. Gehen Sie auch ins Dorf?"
Es sind tatsächlich zwei weiße Umschläge im Eimer! "Ich kann ein Stück mit Ihnen gehen, solch einen Abend muß man einfach ausnutzen!"
Sie nimmt den Eimer in die rechte Hand. Ich wechsle möglichst harmlos ebenfalls auf ihre rechte Seite. An wen mögen die Briefe wirklich adressiert sein? Dorchen Klebuscgh, 63 Jahre alt, war nie verheiratet, hat keine Familie mehr und erst recht keine Kinder.
"Leben Sie allein in Ihrem Haus, Fräulein Klebusch? Wer hilft Ihnen denn putzen, kochen, undsoweiter?"
Sie sieht si adrett und wohlgenährt aus. Kein Fremder wurde sie für absonderlich halten. Dorchen bleibt abrupt stehen. Ihrer Stimme höre ich an, wie zornig und beleidigt sie ist.
"Das mache ich alles selbst, liebe Dame! Ich brauche niemanden! Ich bin froh, wenn mich alle in Ruhe lassen! Jetzt kuschen die Nachbarskinder, wenn ich komme - aber als ich einmal hochschwanger war, sind sie über mich hergefallen. Mit Schaum vor dem Mund fuchtelten sie mit einem großen Messer vor mir herum und traten mich in den leib! Die Polizei hat sie freigesprochen, und ich war die Dumme! ich sehe es Ihnen an, Sie glauben mir nicht! Geben Sie es zu! Sie denken, die Frau spinnt sich etwas zurecht! Abeer ich kann Ihnen noch ganz andere Sachen erzählen. Wenn meine Töchter wüßten, wie man hier mir mir umspringt und mir mein gesamtes Vermögen stiehlt! Wenn die das wüßten, wäre alles anders!"
Vorsichtig frage ich:" Wo sind denn Ihre Töchter?" Da reckt sich Dorchen Klebusch und verkündet wie ein
Herold: "Meine Älteste ist mit dem englischen Kronprinzen verheiratet und heißt Diana. Und die zweite heißt Sarah, sie lebt auch in der königlichen Familie!"
"Aber Fräulein Klebusch, dann verstehe ich nicht, warum Ihre Töchter sich nicht um Sie kümmern. Sie könnten doch in England ein Leben in Reichtum führen!"
Sie schaut mich groß an. "Das wissen Sie nicht? Man hat meinen Kindern doch eingeredet, ich sei tot!"
Ein Flugzeugbrummen unterbricht ihren Schmerz. Sie lauscht. Dann raunt sie leise:"Jetzt schicken sie wieder die tödlichen Strahlen herunter. Immer und immer wieder kommen sie, und die Regierung unternimmt nichts dagegen!"
Ob sie sich von ihren Träumen ablenken läßt? Ich will es versuchen. "Ich bin bis jetzt einmal mit einem FLugzeug geflogen. Ich fand es herrlich!" Hätte ich mir nur rechtzeitig den Mund zugehalten! Sogar die Kühe auf der Weide neben uns unterbrechen ihr Mampfen und heben den Kopf in unsere Richtung. Neben mir sprudelt das ältliche Fräulein Dorchen alle Einzelheiten eines Flugzeugabsturzes heraus wie ein aufgeregtes Kind. Die beiden Piloten hätten vor Angst geschlottert und den Fluggast Dorchen Klebusch inständig gebeten, den Steuerknüppel zu übernehmen. Sie landete dann mit eiserner Ruhe die Maschine auf einem Hochplateau. Alle Passagiere kamen um, nur sie und die Piloten nicht. Seitdem besteht der Chefpilot jedesmal darauf, daß sie bei einem Überlandflug in seiner Maschine anwesend ist, sonst überfliegt er in den USA kein Gebirge mehr.
Das Mißtrauen gegen mich scheint fort zu sein. Ich hüte mich aber, von mir aus ein neues Thema anzufangen.
Unvermittelt fragt sie: "Und wie geht es Ihrem Mann und den drei Kindern?" Sie weiß alle Vornamen und das Geburtsjahr unserer Kinder. Ich werde nicht schlau aus ihr. Sie lebt als Überfrau bereits im nächsten Jahrtausend und versetzt sich nur einem Zuhörer zuliebe in dessen Gegenwart. Sie selbst hat diese Jetztzeit längst durchlebt und hinter sich gelassen.
Je länger das Gespräch dauert, finde ich mich irgendwie ihr gegenüber gemein. Ich nicke nur noch, mime die Staunende und denke: hoffentlich sind wir bald am Briefkasten!
Die Sommernacht bekommt einen Hauch Unwirklichkeit. Der Ton von Dorchen Klebusch´s
Stimme geht hinauf und herunter - wie eine Spinne ein Netz über Spannfäden webt. Dieses Netz legt sich langsam über meine Gedanken. Ich möchte mich schütteln - ich muß mich lösen!
Die Zeiger meiner Uhr stehen bei der Elf übereinander. Wie man schauspielern kann, wenn einem absolut nichts meh einfällt. "O nein, schon elf! jetzt muß ich aber umkehren, sonst denkt mein Mann noch, ich sei verschollen!"
Das Wort verschollen hätte ich lieber nicht gesagt. So muß ich mir noch den Bericht ihres Abenteuers anhören, wo auch sie verschollen war. In einer Höhle! Mit Willenskraft und Schläue hat sie sich und viele andere aus der tödlichen Falle befreit. Abeer hat man ihr dafür von höchster Stelle eine Belobigung ausgesprochen? Schlimmerweise nicht!
Ich sehe sie gestikulieren, und mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Mit überschwenglichen Grußaufträgen an den "teuren Gemahl im trauten Heim" entläßt sie mich. Zur Schau laufe ich die ersten Meter. Ich drehe mich wieder zu ihr um. Dorchen Klebusch schwenkt ihren Eimer, geht schnellen Schrittes am Briefkasten vorüber - unbekannten Zielen entgegen.