Alte Frauen.
Alte Frauen konnte ich nicht leiden, solange ich mich erinnerte. Als ich zwölf war, kam mir meine Großmutter vor wie ein schwarzgekleidetes Wiesel. Von den Schwestern meines Vaters sprach die eine laut und sehr viel, von der anderen sah ich immer nur ihre Augen vor mir, das seltsame Lächeln darin. Ihr Mund sagte: "Es ist ja nicht so schlimm, Kinder!" Aber in ihrem Blick waren Klappmesser eingebaut.
Unsere damalige Nachbarin rollte wie ein 200-Liter-Faß über den Hausflur und dampfte vor Dummheit. Zum Glück fuhren in den 50er Jahren nur wenig Autos auf den Straßen, so konnte ich früh genug auf die andere Straßenseite laufen, wenn eine dieser verhaßten Gestalten mir entgegenkam. Hauptsache, ich brauchte keinen Knicks zu machen und "Guten Tag!" zu sagen. Leider hatten die alten Frauen noch unverschämt gute Augen. Daher bekam ich manchmal von Mutter zu hören: "Warum hast du Frau Birkbach nicht gegrüßt? Sie hat sich bei mir über dich beschwert." Mich ließ das kalt. Sollten sie sich doch selber grüßen, die eingebildeten Mumien. Frau Birkbach war immerhin schon über vierzig! Sie ließ sich einmal im Monat von Mutter die Haare ondulieren mit der Brennschere. Dafür waren wir hinterher bei sämtlichen Krankheiten, heimlichen Liebschaften und Ehekrächen von jedem Dorfbewohner wieder auf dem neuesten Informationsstand.
Ich war schon dreiundzwanzig, führte selbst eine kleine Tochter an der Hand - und meine Aversion gegen alte Frauen bestand immer noch. Dabei hatte sich im Jahr zuvor soviel ereignet. Mir war klar geworden, wie dringend ich selbst die Vergebung meiner Schuld, die Tilgung meiner Sünde nötig gehabt hatte; und ich hatte mein Leben mit all seinem Hin- und Hergezerre Jesus Christus zu eigen gegeben. Vieles durfte ich bis dahin schon erkennen, wo mein stolzes Wesen mir selbst Steine in den Weg gelegt hatte, aber das mit den alten Frauen dauerte noch eine ganze Weile.
Ein halbes Jahr schon gehörte ich zu einer Gruppe von Helfern im Kindergottesdienst. Ich freute mich auf die wöchentlichen Vorbereitungsstunden und verstand mich mit den anderen Helfern in meinem Alter recht gut. Zum Kreis gehörten aber auch drei sehr alte Damen.
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An einem Wochenende hieß es: Wer fährt mit zum jährlichen Treffen aller Kindergottesdiensthelfer im Rheinland? Das war mal eine Abwechslung, und endlich ein Ereignis nur für mich allein, ohne daß meine komplette Familie wie selbstverständlich mitgenommen sein wollte. Vater, Mutter, Schwestern und Tochter blieben wohl diesmal zuhaus, dafür wurde aber mein Auto dankbar angenommen als Transportgelegenheit für zwei unserer alten Helferinnen. Nun hatte ich eine 75- und eine 80-jährige im hinteren Teil meines Wagens sitzen! Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob auf der Hinfahrt viel oder wenig gesprochen wurde. Während des Tages, zwischen all den gutgelaunten Gästen , an einer gemütlichen Kaffeetafel mit jungen und auch alten Leuten stellte sich bei mir eine ungewohnte innere Zufriedenheit ein. Ob das Referat des Pfarrers damit zu tun hatte? Oder das Wiedersehen mit einem jungen Mädchen, das ich auf meinem ersten Wochenendseminar für Kindergottesdiensthelfer kennengelernt hatte? Mir ihr verband mich ein stundenlanges Nachtgespräch. Sie umarmte mich so herzlich, als hätten wir uns erst gestern als Geschwister getrennt. Tatsache war jedenfalls, daß ich am Ende dieses Tages die Barriere vermißte, die noch am Morgen in mir gewesen war. Die Heimfahrt mit den beiden alten Damen durch die abendlich beleuchtete Stadt ging mir plötzlich viel zu schnell. Ich konnte es noch nicht fassen, daß von ihnen kein kalter Hauch mehr ausging, daß sie für mich weibliche Wesen waren so wie ich auch eins war. Wir sprachen und lachten miteinander, und unser Alter spielte keine Rolle mehr.
Eine der beiden Frauen wurde für mich noch viele Jahre lang eine enge Vertraute, ja, eine Beichtmutter - selbst auf ihrem Krankenbett. Ihr konnte ich Dinge erzählen, die ich sonst niemandem anvertraut hätte. Wie gerne würde ich heute noch ihr liebes Gesicht streicheln und ihr danken für all die stillen Minuten, die wir miteinander gebetet haben!
In den letzten dreißig Jahren lernte ich viele alte Frauen kennen. Schwierige, mißtrauische, kranke und verwirrte waren darunter. Zu manch einer helfenden Geste mußte ich mich überwinden. Und doch - sie zu berühren, ihnen zuzuhören, fiel mir nicht mehr schwer.
Aber ich habe auch den großen Unterschied gesehen zwischen Menschen, in deren alten Augen kein Schimmer Hoffnung auf eine Zukunft zu finden ist und denen, die trotz Schmerzen und vieler Lücken im Verstand sicher und getrost der herrlichen Gemeinschaft
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mit ihrem Herrn und Heiland entgegengingen.
Heute bin ich schon älter als meine Tanten es damals waren. Es passiert, daß ich an der Kasse eines Supermarktes warte und ein kleines Mädel im Einkaufswagensitz auf mich zeigt und ruft:"Oma, Oma!"
Mir wird dann ganz warm und ich genieße es. Und ich bete, daß die großen Kinder, die mich abschätzend ansehen, mich in Gedanken nicht "eingebildete Mumie" nennen. Die Einsicht, daß alte Menschen ebenso von Gott geliebt sind wie junge, wird ihnen, genau wie mir damals, nicht von selber kommen - auch nicht mit zunehmendem Alter. Hätte mich Gott nicht so oft gerufen und mir Gelegenheit gegeben, sein Wort auszuprobieren - ich würde alte Frauen auch heute noch hassen, einschließlich dem Gesicht, das mir jeden Tag aus dem Spiegel entgegenschaut.
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